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demos in italienMassen fordern Oppositionspolitik

Wenn an einem Wochenende 300.000 Menschen auf die Straße gehen, um gegen Regierung und Justiz zu protestieren, dann ist das überall ein herausragendes Ereignis. Außer in Italien. Denn dort ist es in den vergangenen Monaten für Millionen von Menschen zur demokratischen Routine geworden, ihre Meinung lautstark und massenhaft kundzutun, statt sich alle fünf Jahre wieder aufs Ausfüllen von Stimmzetteln zu beschränken.

Kommentarvon MICHAEL BRAUN

Zwei bis drei Millionen beim Gewerkschaftsprotest im März in Rom, eine Million bei der Demo der Bürgerbewegungen im September, fast genauso viele vor zwei Wochen in Florenz beim Marsch der Globalisierungskritiker – und jetzt hunderttausende gegen Staatshaushalt und überhaupt gegen die Regierung Silvio Berlusconi. Das ist zunächst eine Lektion für den Premier. Wenn der hoffte, mit satter Parlamentsmehrheit und fast totaler Medienkontrolle das Land im Griff zu haben, dann hat er sich getäuscht. Und sich zugleich nolens volens um die Wiederbelebung ganz „alter“ Formen von Politik verdient gemacht: Die Menschen diskutieren wieder, sie schließen sich zusammen, und sie gehen auf die Straße.

Die Lektion ging aber auch an die Oppositionspolitiker. Manch einer hat in den massiven Protesten linkspopulistische Parteienschelte hören wollen – dabei störte die Millionen Unzufriedener vor allem der Mangel an Opposition, der laue Umgang mit Berlusconi, die innere Zerstrittenheit. Wenn die Mitte-Links-Parteien dagegen endlich selbst mobil machen, dann kommen auch ihre enttäuschten Anhänger zurück. Das zeigte sich am Samstag überdeutlich.

Wenn man den Worten der Oppositionsführer glauben darf, haben sie nun begriffen, dass es ohne unbequemen Dialog mit Bewegungen, Gewerkschaften, Globalisierungskritikern und Basisgruppen keinen Sieg über Berlusconi gibt. In Italien gibt es heute sehr viele Menschen, die Politik nicht mehr bloß konsumieren und an die Parteien delegieren wollen. Ihnen sind die Bekenntnisse vom Samstag zwar willkommen – aber sie erwarten nun auch überzeugende Taten. Die Frontalopposition im Parlament gegen Berlusconis „föderalistische“ Reformen stimmt sie optimistisch. Wie lange der Optimismus hält, wird sich jedoch erst zeigen müssen. Gerade erst haben die Oppositionsparteien eine Versammlung ihrer Parlamentarier für nächste Woche abgesagt – aus Angst, sich dort über interne „Regel“-, sprich Machtfragen heillos zu verkrachen.

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