definiere interpretieren, interpretiere definieren! von WIGLAF DROSTE:
Ich weiß nicht mehr, welcher Sportreporter Mitte der Neunzigerjahre als Erster ganz besonders schlau und originell sein wollte und deshalb sagte: „Matthias Sammer interpretiert die Rolle des Liberos neu.“ Jedenfalls schnasselten dem professionellen Gipskopf zügig alle seine Kollegen hinterher, und von da an hieß es unausweichlich: „Matthias Sammer interpretiert die Rolle des Liberos neu.“
Die Rolle des Liberos neu interpretieren – genauso könnte man sagen, dass einer, der sich Gäste einlädt, um ihnen das Rauchen zu verbieten oder sie auf den Balkon zu jagen, die Heiligkeit der Gastfreundschaft neu interpretiert; dass Rudolf Scharping in seinem Amt den Pazifismus und in seinem Privatleben die Diskretion neu interpretiert; dass Adolf Hitler den Philosemitismus neu interpretierte; dass die so genannte „akzeptierende Jugendarbeit“, mit der seit Jahren Nazis zur Fortführung ihrer Existenz ermuntert werden, alle Gebote der Vernunft neu interpretiert; dass Michael Schumachers Mienenspiel die Idee humaner Intelligenzbegabtheit neu interpretiert; dass der Lederhosenspießer Hartmut Engler, Sänger der akustischen Todesstrafe Pur, der als sein Vorbild den BAP-Mann Wolfgang Niedecken angibt, was ich Wolfgang Niedecken von Herzen gönne, in Aussehen, Rede und Tat die menschliche Würde neu interpretiert, wie es auch sein Kollege Klaus Meine von den Scorpions und dessen früherer hannöverscher Tennispartner Gerhard Schröder als Teil der öffentlichen, aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskommenden Eheleute Schröder-Köpf tun. Und so weiter.
Nicht nur das Interpretieren hat einen langen Weg hinter sich vom Deutschunterricht bis in die Mundhöhlen medialer Sportverwesung. Auch das gute alte Definieren geht mittlerweile ganz neue Wege. Einen Porsche fahrenden Designer hörte ich am Nebentisch zu Designerfreunden aus Düsseldorf sagen: „Das ist doch okay, wenn einer seinen Körper ganz klar definieren will.“ Er meinte damit Sitzungen im Fitnessstudio, bei denen man sich gartenschlauchartige Adern unter die Haut quälen und andere ähnlich unlustige Dinge mit sich anstellen kann, um den Anforderungen des Körperkults zu genügen, diesem offensichtlichsten Ausdruck einer kriegerischen Gesellschaft. Manche sagen dazu definieren – das klingt nicht so sportiv und körperdumm, und vielleicht kompensiert es die selbst zugefügten Schmerzen? Ich weiß das nicht. Dennoch kann auch ich meinen Körper sehr klar definieren, ziehe aber die altmodische Methode vor und beschreibe ihn: Klops.
Das ist exakt, wahr und anschaulich – und keine Sekunde im Studio oder mit dem Heimtrainer ist dazu nötig, kein Aufbaupräparat, kein Tropfen Schweiß, kein Gekeuche, kein prügelnd pochendes Herz. Nur die Freude am Spachteln, etwas Bereitschaft zur Selbsterkenntnis und genügend Unerschrockenheit – die man auch Humor nennen könnte –, um die kanonenkugelige Wucht der Erkenntnis abzufedern. Notfalls kann ich immer noch sagen, dass mein Körper das Ideal des Diätismus neu interpretiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen