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debatteDie peronistische Pleite

Der Ultralibertäre Javier Milei wird argentinischer Präsident. Seine Wahl war vor allem eine Abrechnung mit den regierenden Peronisten

Neoliberale jubilieren: Der Anarchokapitalist Javier Milei „ist Schillers Ode an die Freiheit plus Kapitalismus“, fabuliert etwa Ulf Poschardt, Argentinien sei nun weltweit „das wohl größte Freiheitsexperiment seit Jahrzehnten“. Für den Banker Ulrich Sante, bis vor Kurzem deutscher Botschafter in Buenos Aires, haben die Peronisten das Land „über Jahrzehnte in Grund und Boden gewirtschaftet“. Der Wandel sei notwendig, „um die Schätze Argentiniens endlich wieder zu heben“, Rinder, Soja, Lithium, „auch Wind und Sonne zur Herstellung von grünem Wasserstoff“.

Milei siegte mit über 11 Prozentpunkten Vorsprung – ein politisches Erdbeben. Doch die wenigsten seiner Wäh­le­r:in­nen sind Rechtsradikale oder Ultraliberale. Überwiegend wollten sie die Mitte-links-Peronisten mit Wirtschaftsminister Sergio Massa für ihre katastrophale Regierungsbilanz abstrafen. Sie folgten damit einer Tendenz im krisengeschüttelten Lateinamerika: In 17 der 18 Präsidentschaftswahlen seit 2019 gewann der Oppositionskandidat.

Die Ar­gen­ti­nie­r:in­nen haben genug von der dreistelligen Inflation und sinkenden Reallöhnen, über 40 Prozent von ihnen leben in Armut. Gegen diesen Frust wirkten auch die Hinweise auf geerbte Auslandsschulden, die Folgen der Covid-19-Pandemie und durch Dürren dezimierte Soja­ernten kaum. Auch das Thema Korruption war präsent: Vor dem ersten Wahlgang tauchten Fotos auf, die einen Provinzfürsten auf einer Luxusjacht im Mittelmeer zeigten.

Ende letzten Jahres, kurz nachdem Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner einem Attentat entgangen war, wurde die starke Frau der Pe­ro­nis­t:in­nen zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, der Weg durch die Instanzen steht noch bevor. Während ihrer Amtszeit soll sie den Staat um eine Milliarde Dollar geprellt haben – mehr als Indizien gibt es aber nicht. „Lawfare“, Verfolgung durch eine Justizmafia, sei das, wehrte sich Kirchner. Die großen Medien verfolgten den Prozess lustvoll. „Weg mit dem Kirchnerismus“, war ihr Motto, Milei griff es auf.

Wie seine unpopuläre Vize verzichtete der schwache Noch-Präsident Alberto Fernández auf eine erneute Kandidatur. Die beiden sind einander in tiefer Abneigung verbunden. Dabei hatte Cristina Kirchner ihn vor vier Jahren zum einzigen peronistischen Kandidaten ausgerufen, was einen klaren Wahlsieg gegen den rechten Amtsinhaber Mauricio Macri zur Folge hatte (derselbe Macri, der jetzt nach dem ersten Wahlgang ein Bündnis der Rechtsliberalen mit Milei durchsetzte).

Fernández bezeichnete sich zu Beginn seiner Amtszeit als Sozialdemokrat und bekannte, ihm stehe Bob Dylan näher als Übervater Juan Domingo Perón (1895–1974). Vom Begründer des argentinischen Wohlfahrtsstaates wollte er sich damit sicher nicht distanzieren, eher wohl von den autoritären Attitüden des Militärs und Mussolini-Bewunderers, der 1955 nach zwei Amtszeiten weggeputscht wurde. Dessen Rückkehr aus dem Exil 1973 mündete in ein Chaos, das einem brutalen Militärregime (1976–83) den Weg bereitete. Doch lange blieb die peronistische Bewegung die wichtigste Kraft des Landes.

Gerhard Dilger

schreibt seit 1996 für die taz. Bis 2012 war er Südamerika-Korrespondent, danach Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo und Buenos Aires. Heute ist er als freier Journalist in Buenos Aires tätig.

Von 2003 bis 2007 war Fernández die rechte Hand von Cristinas Mann und Vorgänger Néstor Kirchner, der in der Menschenrechtspolitik neue Maßstäbe setzte. Diese Progressiven waren eine Reaktion auf die neoliberalen 1990er, in denen in Argentinien ein weiterer Peronist mit seiner Wirtschaftspolitik eine soziale Explosion vorbereitete: Carlos Menem, eines der Vorbilder Mileis.

Alberto Fernández’ gut geplante, restriktive Anti-Corona-Politik verschaffte ihm zunächst breiten Rückhalt. Im Februar 2021 wurde allerdings bekannt, dass es bei der Versorgung mit den damals noch raren Impfstoffen zu Vetternwirtschaft kam. Später wurden der Presse Videos einer illegalen Geburtstagsparty der First Lady zugespielt. Damit war der Staatschef vollends unglaubwürdig.

Zugleich boykottierte ihn Cristina Kirchner zunehmend. Und obwohl Wirtschaftsminister Martín Guzmán, ein politisch unerfahrener Ökonom, sich in den Umschuldungsverhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds achtbar schlug, entzog sie auch ihm das Vertrauen, Guzmán warf schließlich entnervt hin. Nachfolger Sergio Massa verhandelte ganz ähnlich mit dem IWF, allerdings mit dem Segen Kirchners.

Ähnliche Querelen hatten bereits 2015 zur Niederlage gegen Macri geführt. Auch die jahrzehntelange Hegemonie des Peronismus im Landesinneren schmilzt dahin: Gerade in 3 der 23 Provinzen gewann Massa. Im Zwei-Kammer-Parlament hingegen stellt das peronistische Wahlbündnis „Union für das Vaterland“ noch die größten Fraktionen.

Eine starke Linke hat der Peronismus stets verhindert, soziale Bewegungen wurden kooptiert und gespalten

Eine starke Linke hat der Peronismus seit jeher verhindert, die sozialen Bewegungen wurden häufig kooptiert und gespalten. Indigene und Um­welt­ak­ti­vis­t:in­nen sind weitgehend ausgegrenzt, den Extraktivismus von Soja, Gas oder Mineralien haben die Peronisten vehement vorangetrieben. Selbst die mächtige Frauenbewegung, die nach Jahren massiver Demos schließlich Ende 2020 das Recht auf Abtreibung durchsetzte, konnte die reaktionäre Milei-Welle nicht stoppen.

Milei hat den Kulturkampf gegen Pe­ro­nis­t:in­nen und Linke gewonnen. Insofern fügt er sich ein in den Vormarsch der extremen Rechten weltweit. Doch die Unterschiede zu Trump oder Bolsonaro sind größer als die Gemeinsamkeiten. Der Ultralibertäre will die Kettensäge am Sozialstaat ansetzen, Rentenversicherung und Staatsbetriebe privatisieren, den Peso und die Zentralbank abschaffen. Er wird auf Widerstand stoßen – im Parlament, wo nur wenige seiner Leute sitzen, bei den Gewerkschaften und auf der Straße. Einiges deutet darauf hin, dass er ein schwacher Präsident wird. Das „Freiheitsexperiment“ steht auf tönernen Füßen.

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