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debatteImpfstoff-Nationalismus

Die reichen Länder teilen keine Patentrechte und geben unbrauchbaren Impfstoff an den Globalen Süden weiter. Dies hat Omikron begünstigt

Mark Malloch Brown, Jahrgang 1953, ist seit 2021 Präsident der Open Society Foundations von George Soros und ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär. Er war von 2007 bis 2009 Staatsminister für Afrika, Asien und die Vereinten Nationen in der britischen Labour-Regierung von Premierminister Gordon Brown.

Das Auftreten der neuen Omikron-Variante des Coronavirus ist keineswegs eine Überraschung. Es ist vielmehr das von vielen vorhergesagte Ergebnis eines großen, weltweiten politischen Versagens. Wissentlich haben es die Regierungen reicher Länder hingenommen, dass in Staaten mit niedriger und mittlerer Wirtschaftskraft die Impfprogramme nicht in die Gänge kommen.

Hätten sie vorausschauend erkannt, dass dies zur Ausbreitung und Mutation neuer Virusvarianten führen und neue Einschränkungen und Lockdowns nach sich ziehen würde, hätten sie womöglich Impfstoffe weitergegeben und die Pharmaunternehmen zur Bereitstellung von Impfstoffrezepten gedrängt. Stattdessen jedoch haben sich die reichen Länder entschieden, einem Impfstoff-Nationalismus Vorrang einzuräumen. Das Ergebnis davon ist nun, dass wir das Jahr 2022 mit gesundheitlicher und wirtschaftlicher Unsicherheit beginnen. Doch es ist noch nicht zu spät für eine Kursänderung.

In weiten Teilen des Globalen Nordens haben inzwischen 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung eine vollständige Corona-Impfung erhalten; Impfprogramme erfassen auch als risikoarm geltende Menschen wie Kinder. Um die Gesundheitssysteme vor Überlastung zu bewahren, erhöhen reiche Länder zudem die Vakzinmenge für Auffrischungsimpfungen. In den meisten Ländern mit niedrigem und mittlerem Lohnniveau hingegen verharren die Impfraten im einstelligen Prozentbereich. In Afrika beispielsweise sind nach Angaben der WHO gerade einmal 8 Prozent der gesamten Bevölkerung vollständig geimpft.

Während die Menschen in den ärmsten Ländern ohne Impfstoff auskommen müssen, lassen die G7-Staaten in diesem Jahr 100 Millionen Impfdosen vernichten, weil sie nicht alle Vorräte aufbrauchen können. Die britische Regierung, die viermal so viel Impfstoff wie benötigt bestellt hatte, entsorgte im August 2021 mehr als 600.000 Dosen von AstraZeneca, deren Haltbarkeitsdatum überschritten war. Und Großbritannien ist kein Einzelfall. In Frankreich wurde im April ein Viertel der AstraZeneca-Impfstoffe vernichtet, in den Vereinigten Staaten wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde CDC zwischen März und September 15 Millionen Dosen von Pfizer und Moderna weggeworfen.

Nicht genutzte Impfstoffe, die an ärmere Länder geliefert wurden, waren oft so nah am Verfallsdatum, dass sie vernichtet werden mussten, bevor sie verteilt werden konnten. So wurden in Nigeria, wo nur rund 2 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, 1 Million AstraZeneca-Dosen wegen Überschreitung der Haltbarkeitsdauer entsorgt. Die Afrikanische Union wies darauf hin, dass die meisten Impfstoffspenden für Afrika bisher nur ad hoc, also ohne Vorankündigung und mit nur kurzer Haltbarkeitsdauer, geliefert wurden. Es hat keinen realen Nutzen, Impfstoffe kurz vor ihrem Ablaufdatum bereitzustellen – offenbar nur zur Gewissensberuhigung reicher Staaten.

Es ist letztlich eine Frage des politischen Willens, das Ungleichgewicht zwischen jenen, die in den Genuss von Impfstoffen kommen, und jenen, die keinen Zugang dazu haben, zu beseitigen. Bald dürfte es ausreichend Impfstoff geben, um die gesamte Welt impfen zu können. Doch die reichsten Länder treffen die politische Entscheidung, diese ungerecht zu verteilen. Obwohl sie sich im Rahmen von Programmen wie „Covax“ verpflichtet haben, bleiben viele der impfstoffreichen Länder kläglich hinter ihren eigenen Zusagen zurück. Jüngsten Daten zufolge hat Deutschland gerade einmal 8,5 Prozent der zugesagten Lieferungen an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen erfüllt. Auch die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien liefern nur sehr schleppend und ziehen nun, wie Großbritannien, Auffrischungsimpfungen gegenüber der globalen Versorgung vor.

Die G7-Staaten und die Europäische Union hatten im abgelaufenen Jahr rund 770 Millionen Impfdosen übrig, selbst wenn man die Auffrischungsimpfungen berücksichtigt. Vor allem Deutschland und Großbritannien haben die Interessen ihrer eigenen Pharmaunternehmen über das globale Gemeinwohl gestellt, obwohl diese Konzerne bereits immense Gewinne eingefahren und öffentliche Fördermittel erhalten haben. Tatsächlich schnellte an dem Tag, an dem die WHO die Omikron-Variante bestätigte, die Moderna-Aktie um mehr als 20 Prozent in die Höhe, Pfizer stieg um 6 Prozent und Biontech legte mehr als 14 Prozent zu. Dieser Wirtschaftszweig kann es sich leisten, den Ärmsten der Welt sein Wissen zur Verfügung zu stellen.

Omikron wirft uns zurück und untergräbt die Appelle an die reicheren Länder, mehr zu tun. Eine WTO-Konferenz, auf der eine Patentrechte-Ausnahmeregelung erörtert werden sollte, um die weltweite Produktion und den Informationsaustausch zu beschleunigen, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Und während die WHO darauf drängte, dass bis Ende 2021 40 Prozent der Menschen in allen Ländern geimpft werden sollten und bis Mitte 2022 70 Prozent, haben rund die Hälfte der 194 WHO-Mitgliedstaaten dieses 40-Prozent-Ziel verfehlt.

In Nigeria wurden eine Million AstraZeneca-Dosen wegen Überschreitung der Haltbarkeitsdauer entsorgt

Wir werden, je länger die reicheren Länder zaudern, umso mehr Chancen verlieren, die Schäden und Missstände zu bekämpfen, die Corona hervorgerufen hat. Wie das Auftreten und die Ausbreitung dieser jüngsten Variante zeigen, ist diese Pandemie nach wie vor ein globales Problem, das eine gemeinsame, globale Strategie erfordert. Eine Politik des Impfstoff-Nationalismus kann unter diesen Umständen niemals von Erfolg gekrönt sein. Durch das Aufstocken von Vorräten und ihre Weigerung, Urheberrechte gemeinsam zu nutzen, versperren die „impfstoffreichen“ Länder der Welt den Weg aus dieser Krise.

Aus dem Englischen: Ingo J. Biermann

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