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debatteMenschenrechte als Waffe

Russland zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um die Ukraine anzuklagen. Das ist zynisch. Kiew sollte die Klage dennoch ernst nehmen

Helena Friedrich

Bernhard Clasen

ist der Ukrainekorrespondent der taz und schreibt seit 1993 für die Zeitung. Er hat in Heidelberg Russisch studiert, besitzt aber auch gute Ukrainischkenntnisse.

Russland hat seine Liebe zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entdeckt. Ende Juli übermittelte es eine 300 Seiten starke Anklageschrift gegen die Ukraine. Diese Klage ist den russischen Behörden sogar so wichtig, dass sie das Straßburger Gericht aufgefordert haben, Regel 39, also eine Eilbehandlung, anzuwenden. Das Gericht hat die Klage zwar angenommen, es aber abgelehnt, nach Regel 39 vorzugehen.

Russlands neues Interesse am Gerichtshof für Menschenrechte ist verwunderlich, denn bisher hat Moskau diese Institution oft missachtet. 2015 wurde extra ein Gesetz verabschiedet, mit dem sich Russland erlaubt, Entscheidungen des Gerichtshofs zu ignorieren. Viele Urteile wurden gar nicht oder nur teilweise umgesetzt.

Tschetschenien ist dafür ein Beispiel: Russland hat zwar akzeptiert, den Angehörigen von verschleppten und verschwundenen Menschen ein Schmerzensgeld zu zahlen. Aber es ist nicht den Straßburger Forderungen nachgekommen, Menschenrechtsverletzungen prinzipiell zu vermeiden. Nach wie vor wird in tschetschenischen Gefängnissen gefoltert, werden Bürgerrechtler inhaftiert und Homosexuelle verfolgt.

Wie selektiv Moskau mit dem Thema Menschenrechte umgeht, zeigt auch der Fall Alexei Kudin: Der belarussische Kickboxer wurde im Juli von Russland nach Minsk abgeschoben. Dabei hatte der Straßburger Gerichtshof in einer Eilentscheidung nach Regel 39 diese Auslieferung verboten. Doch diese Eilentscheidung wurde von Moskau ignoriert – während es gleichzeitig eine Eilentscheidung gegen die Ukraine verlangte.

Anfang des Jahres forderte Straßburg, den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalni freizulassen. Auch dieses Urteil hat Russland ignoriert, denn es sei, so Präsidentensprecher Peskow, ein „sehr ernsthafter Einmischungsversuch in die innerrussische Gerichtsbarkeit“.

Wenn es um Menschenrechte geht, misst Russland mit zweierlei Maß: In Tschetschenien hat Russland im Kampf gegen Separatisten ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht und Flüchtlingstrecks bombardiert. Gleichzeitig wirft man aber der ukrainischen Armee vor, auch zivile Ziele in der Ostukraine zu beschießen. Würde die Ukraine gegen die ukrainischen Separatisten so vorgehen, wie sich Russland gegenüber tschetschenischen Separatisten verhalten hatte, wäre das Zentrum von Donezk komplett dem Erdboden gleichgemacht worden.

Russland kritisiert – durchaus zu Recht – die Schließung regierungskritischer Fernsehkanäle durch die ukrainischen Behörden. Aber gleichzeitig geht Moskau rabiat gegen alle Kritiker vor. So muss der russische Oppositionelle Andrei Borowikow 2,5 Jahren Haft absitzen, weil er ein Rammstein-Video geteilt hatte. Viele staatsferne Medien und Journalisten werden zu „ausländischen Agenten“ oder „unerwünschten Organisationen“ erklärt und in ihrer Arbeit behindert. Ende Juli waren wieder 49 Internetportale von der russischen Generalstaatsanwaltschaft blockiert worden. Schon seit Jahren sind führende ukrainische Portale in Russland nicht mehr abrufbar.

Der ukrainische Außenminister, Dmitrij Kuleba, äußerte daher den Verdacht, mit seiner Klage in Straßburg wolle Russland nur viel Lärm im Informationsraum machen. An einem Ablenkungsmanöver könnte Russland tatsächlich Interesse haben, denn am 23. August tagt in Kiew die „Krimplattform“, die von der ukrainischen Regierung initiiert wurde und zu der Präsidenten mehrerer Länder, Minister und Politiker aus der EU, der Türkei und den USA erwartet werden.

Auf dieser Konferenz wird es vor allem um die besorgniserregende Menschenrechtslage auf der Krim gehen. Dort sind die Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie die Freiheit der Medien eingeschränkt, stehen proukrainische Aktivist_innen, Krimtatar_innen, Menschenrechtsaktivist_innen, kritische Journalist_innen und Anwält_innen im Visier der Behörden. Unliebsame Personen verschwinden einfach oder erhalten langjährige Haftstrafen.

Auch wenn man Russland unterstellen mag, dass es den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nur als Plattform gegen die Ukraine nutzt, muss Kiew auf die Vorwürfe inhaltlich antworten. Schließlich will das Land Mitglied der EU werden. Da reicht es nicht, die Klage einfach als „Abrakadabra“ abzutun, wie es Anton Korinewitsch, Vertreter des ukrainischen Präsidenten auf der Krim, tut.

Russland bemängelt zu Recht, dass rechtsradikale Nationalisten in der Ukraine eine hohe Akzeptanz besitzen

Die russische Klage bemängelt zu Recht, dass rechtsradikale Nationalisten in der Ukraine eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz besitzen. Erst im Juli erhielt ein bekennender Rechtsradikaler, Serhii Filimonow, ein Stipendium der Ukrainian School of Political Studies, die unter anderem von der Adenauer- und der Naumann-Stiftung gefördert wird. Filimonow war Chef des Kiewer Freiwilligenbataillons Asow und fiel im Februar damit auf, dass er mit Gleichgesinnten eine Sitzung des Stadtrates von Kramatorsk gewalttätig sprengte. Kramatorsk liegt im Donezkbecken und ist mehrheitlich russischsprachig.

Russland prangert zudem an, ebenfalls zu Recht, dass die Ukraine die Trinkwasserversorgung der Krim unterbrochen hat. Es ist eines Staates, der in die EU möchte, nicht würdig, seine Nachbarn durch Trinkwasserentzug zu erpressen. Richtig ist auch die russische Kritik, dass sich die Ukraine nicht ausreichend bemüht, die Tötungen auf dem Maidan und im Gewerkschaftshaus von Odessa 2014 aufzuklären.

Russland will die Klage gegen die Ukraine politisch nutzen, doch könnte der Gang nach Straßburg möglicherweise dazu führen, dass sich der Blick auch auf Russland richtet. Moskau wird sich gefallen lassen müssen, dass man sein Verhältnis zu den Menschenrechten ebenfalls genauer unter die Lupe nimmt. Das wäre eine erfreuliche Entwicklung.

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