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debatteDie unvollendete Revolution

In Tunesien ist die mühsam erkämpfte Demokratie nicht nur wegen der Coronakrise in Gefahr. Die alten Machtstrukturen bestehen weiter

Henrik Meyer

leitet seit 2015 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Tunesien. Zuvor war er für die Iran-Arbeit der FES zuständig sowie für das Auslandsbüro Palästinensische Gebiete (Ost-Jerusalem) tätig. Er studierte Politik- und Islamwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Damaskus und ist Autor des Buches „Hamas 0und Hizbollah“ (2009).

Tunesien, die ewige Ausnahme. Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als könne das nordafrikanische Land ein weiteres Mal diesem Titel gerecht werden. Während andere Länder im Chaos der Coronapandemie versanken, trauten die Tunesier beim täglichen Blick auf die Corona-Fallzahlen ihren Augen nicht. Nachdem am 22. März ein früher und strenger Lockdown verhängt worden war, wurden ab Anfang Mai über mehrere Monate nahezu keine Neuinfektionen registriert. Der erst kurz vor Beginn der Krise ins Amt gewählte Regierungschef Elyes Fakhfakh sonnte sich im Erfolg seines international gefeierten Krisenmanagements. Schon im Fastenmonat Ramadan nahm das Leben auf den Straßen Tunesiens wieder weitgehend seinen gewohnten Lauf.

Doch wenige Monate später hat sich das Blatt gewendet. Regierungschef Fakhfakh ist zurückgetreten, Staatspräsident Saied spricht offen von der Gefahr eines Staatsstreichs und Parlamentspräsident Rached Ghannouchi hat nur knapp ein Misstrauensvotum überstanden. Im Parlament flogen Beleidigungen und Stühle – und auch die Corona-Fallzahlen steigen wieder. Wie konnte es dazu kommen? Vordergründig begann die Staatskrise mit einem Fernsehinterview Fakhfakhs am 14. Juni. Auf die Konfrontation mit dem Vorwurf, er besitze Anteile an Firmen, die staatliche Aufträge erhalten hätten, reagierte Fakhfakh verunsichert und verständnislos. Der Sozialdemokrat zog sich zurück auf eine formaljuristische Verteidigung und verkannte die politische Munition, die dieses Thema seinen Gegnern bot. Schnell gelang es den Anhängern des gestürzten Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali mit ihrer Parti Destourien Libre (PDL) ein Medientrommelfeuer zu entfachen, das einen Keil in die heterogene Regierungskoalition aus Islamisten, Sozialdemokraten und Panarabisten trieb. Insbesondere die selbst an der Regierung beteiligte islamische Ennahdha sah genüsslich dabei zu, wie der gegen ihren Willen vom Staatspräsidenten vorgeschlagene Regierungschef öffentlich demontiert wurde.

Was sich, angeführt von der PDL-Vorsitzenden Abir Moussi, anschließend ab dem 10. Juli im tunesischen Parlament zutrug, dürfte die kurioseste Episode des tunesischen Transformationsprozesses sein. Wochenlang blockierten PDL-Abgeordnete den Eingang zum Parlament, besetzten das Büro des Kabinettschefs und entfernten kurzerhand den Stuhl des Parlamentspräsidenten, um Sitzungen unmöglich zu machen.

Die Tatsache, dass ein Korruptionsvorwurf gegen den Regierungschef und ein Streit um den Parlamentspräsidenten zu einer solch heftigen Explosion führt, verweist auf tieferliegende Konflikte. Die politischen Turbulenzen und Identitätskämpfe zwischen Säkularen, Religiösen und Populisten entstehen aus den Dysfunktionen eines auf Klientelismus und Patronage beruhenden Wirtschafts- und Politiksystems.

Zwar haben die wichtigsten Mitglieder des gestürzten Clans des Autokraten Ben Ali an Einfluss verloren. Die verbliebenen mächtigen Familien des tunesischen Establishments aber verfügen heute über noch mehr Machtressourcen als früher. Diese investierten sie in den vergangenen Jahren, um politische Akteure aller Couleur immer wieder dazu zu bewegen, sich zu „Einheitsregierungen“ zusammenzuschließen, zu Vielparteienkoalitionen, die über gewaltige parlamentarische Mehrheiten verfügten, aufgrund ihrer Heterogenität aber nahezu entscheidungsunfähig waren.

Dies verstärkte ein problematisches, überkommenes Politikverständnis: Parteien definieren sich und ihre Interessen in Tunesien kaum über politische Positionen, sondern über die Nähe zur Macht. Die Frage, wer sich mit wem zusammentut, ist im Zweifelsfall wesentlich wichtiger als die Frage, was eigentlich damit erreicht werden soll. Spätestens mit ihrem Agieren im Zuge der aktuellen Regierungskrise ist klar geworden, dass auch die islamistische Ennahdha wesentlich stärker an einem Zugang zur Macht als an der Durchsetzung eines konservativ-islamischen Gesellschaftsmodells interessiert ist. Sie ist, in diesem Sinne, tatsächlich zu einer ganz normalen tunesischen Partei geworden.

Den gordischen Knoten der sich gegenseitig stützenden und das Land lähmenden Kräfte zu zerschlagen ist das entscheidende politische Projekt, das zur Verwirklichung der Ziele der Revolution noch aussteht. Genau dies hatte sich das Duo Saied/Fakhfakh auf die Fahne geschrieben. Im Schatten der Coronakrise waren tatsächlich erstmals seit der Revolution Maßnahmen angelaufen, die den Status quo und die Funktionsweise des tunesischen Klüngelkapitalismus in Frage stellten.

Die Identitätskämpfe zwischen Säkularen, Religiösen und Populisten entstehen aus dem dysfunktionalen System

Die Staats- und Regierungskrise hat also mindestens genauso viel zu tun mit der Verteidigung von Privilegien wie mit der anfänglichen Korruptionsaffäre des Regierungschefs. Staatspräsident Saied scheint im Moment noch durch seine nach wie vor enorme Popularität geschützt, doch auch er steht unter Druck.

Es ist nicht ohne Ironie, dass die Regierung Fakh­fakh, die sich dem Kampf gegen Korruption verschrieben hatte, nun über eine Korruptionsaffäre zu Fall gekommen ist. Dem designierten Nachfolger, Hichem Mechichi, steht eine Mammutaufgabe bevor. Zunächst muss er das zerstrittene Parlament einigen, um anschließend mit einer handlungsträgen Vielparteienregierung die schwere Wirtschaftskrise zu bewältigen. Denn auch wenn Tunesien die Coronakrise bislang besser bewältigt hat als fast alle anderen Länder auf der Welt, droht doch der volkswirtschaftliche Kollaps. Allein durch das Ausbleiben der Touristen verlieren fast 20 Prozent der Menschen ihre Existenzgrundlage. Scheut Mechichi davor zurück, Kartelle zu zerschlagen und Korruption zu bekämpfen, ist der ohnehin gewaltige Abwärtstrend der tunesischen Wirtschaft noch schwerer aufzuhalten. Die tunesische Demokratie ist deswegen heute mehr denn je ernsthaft in ihrer Existenz bedroht.

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