debatte: Bürgerräte haben Potenzial
Die Regierung bricht ihr Versprechen, weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie einzuführen. Dabei sind diese außerordentlich sinnvoll
Ute Scheub feiert in diesem Jahr ihr 20-20-20-Jubiläum: Sie hat die taz mitbegründet und etwa 20 Jahre dort mitgearbeitet, seit 20 Jahren ist sie freie Autorin und hat nun ihr 20. Buch veröffentlicht.
Im Koalitionsvertrag der Groko steht klar und deutlich: „Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann.“ Aber wo ist sie denn, die Kommission? Offenbar haben Union wie SPD vor dem Thema entsetzliche Angst. Denn es müsste Tacheles geredet werden über die abnehmende Resonanz zwischen Wählenden und Gewählten, über die Unzufriedenheit von fast der Hälfte aller befragten Bundesdeutschen mit der herrschenden Form von Demokratie – was sich ja auch an Stimmen für die AfD zeigt.
Die Regierungskoalition bricht also ihre Versprechen. Dabei ist unter anderem Irland ein Beispiel dafür, wie positiv, wie befriedend sich Bürgerbeteiligung auswirken kann. Im Auftrag des irischen Parlaments hat 2013 eine Bürgerversammlung von 100 Personen – 66 ausgeloste Laien, 33 Politiker, ein Vorsitzender – darüber diskutiert, ob die Homoehe erlaubt werden sollte. Sie tagte ein ganzes Jahr lang, immer ein bezahltes Wochenende pro Monat, beriet unter Medienbegleitung ausführlich jedes Pro und Contra und gab schließlich mit 77 Stimmen eine Pro-Empfehlung ab. Mitte 2015 ließ die Regierung darüber ein Referendum abhalten. Ergebnis: 62 Prozent stimmten der Verfassungsänderung zu. Und das wohlgemerkt im erzkatholischen Irland. Im ebenfalls katholischen Frankreich führte die Einführung der Homoehe ohne vorherige Bürgerkonsultationen zu Protestdemonstrationen von Hunderttausenden. Und hätte sich Großbritannien bei der Brexit-Frage an das irische Modell gehalten, hätte es wohl ein anderes Ergebnis und ganz sicher nicht die hasserfüllte Spaltung der Gesellschaft gegeben.
Das wirft ein Schlaglicht auf das enorme Potenzial von Bürgerräten, wenn sie die ganze Bevölkerung vertreten. Wichtig ist deshalb, dass die Beteiligten repräsentativ ausgelost werden: Falls im ersten Stadium vorwiegend alte weiße Männer oder vorwiegend junge schwarze Frauen ausgewählt werden, wird weiter gelost, bis die Repräsentativität bei Geschlecht, Alter, Herkunft und Bildungsgrad stimmt.
Bürgerräte haben den riesigen Vorteil, dass sie frei von Eigen- und Parteiinteressen und Lobby-Einflüsterungen Sachfragen erörtern können. Die allermeisten Ausgelosten sind begeistert dabei, weil sie endlich etwas zu sagen haben, weil ihre Stimme gehört wird. Es gibt rührende Geschichten wie die von dem irischen Lastwagenfahrer Finnbar O’Brien, der als Kind missbraucht wurde und Schwule hasste, bis er in der Bürgerversammlung Freundschaft mit ihnen schloss.
Der bundesweite Verein „Mehr Demokratie“ hat sich bisher vor allem um die Einführung von direkter Demokratie und Volksabstimmungen gekümmert. Nun plant die NGO ein Demokratie-Doppelmoppel, nämlich einen bundesweiten Bürgerrat zur Demokratie-Erweiterung, finanziert von der Schöpflin-Stiftung. In Vorbereitung dazu organisierte sie im Juni und Juli „Regionalkonferenzen“ mit je 40 bis 80 Menschen, die an kleinen Tischen diskutierten. In Erfurt war Bodo Ramelow mit anwesend, in Schwerin Dietmar Bartsch, in Gütersloh Ralph Brinkhaus, in Mannheim Gisela Erler.
Laut Claudine Nierth von „Mehr Demokratie“ war die Resonanz „überwältigend“. Es fielen Kommentare wie: „Großartig, die Idee mit dem deutschlandweiten Bürgerrat. Genau das brauchen wir jetzt.“ Oder: Ausgeloste Bürgerräte seien „ein echtes Minideutschland, das ganze Land klein oder fein an einem Tisch.“ Statt Parteienmüdigkeit: plötzlich Euphorie. Im nächsten Schritt soll nun ein 160-köpfiger Bürgerrat ausgelost werden, der die wichtigsten Themen aus den Regionalkonferenzen diskutiert und ein Bürgergutachten zur Demokratieerweiterung erarbeitet. Die Ergebnisse sollen im November 2019 dem Bundestag übergeben werden.
Und „Mehr Demokratie“ hat noch mehr vor: Der Verein will Bundeskanzlerin und „Klimakabinett“ dazu bringen, einen weiteren Bürgerrat zum Thema Klimaschutz zu organisieren, wissenschaftlich beraten von einem Beirat aus den wichtigsten Forschungsinstituten. Ein solcher überparteilicher Klimarat, der einen sozial ausgewogenen Katalog der dringlichsten Maßnahmen erarbeitet, würde voraussichtlich auf viel Resonanz und Akzeptanz stoßen. „Bürgerräte können einen breiten gesellschaftlichen Konsens herstellen hinsichtlich der Handlungsnotwendigkeit, möglicher Zielkonflikte und zu anstehenden Umsetzungsmaßnahmen“, heißt es dazu in einem Papier von „Mehr Demokratie“.
Parallel dazu hat auch das Umweltbundesamt in seiner Studie „Bundesrepublik 3.0“ Erfahrungen in Irland, Island, Kanada, Vorarlberg und anderswo ausgewertet und das Potenzial konsultativer Verfahren entdeckt. Man könne diese unter dem Dach einer ständigen „Bundesbeteiligungswerkstatt“ zusammenfassen, schlägt das Autorenteam vor. Es versucht der Politik die Angst davor zu nehmen: „Die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch ein zusätzliches Gremium ersetzt die gegebenen Zuständigkeiten nicht. Vielmehr können neue Beteiligungsformate die Arbeit von Legislative und Exekutive unterstützen, ergänzen und anreichern.“ Voraussetzung sei allerdings, dass die Bundesregierung oder der Bundestag eine „Befassungspflicht“ bezüglich der Bürgeranliegen habe oder Volksabstimmungen über Bürgergutachten und Gesetzesinitiativen stattfänden.
Demokratie könnte weit attraktiver werden, wenn repräsentative, direkte und konsultative Elemente kombiniert würden. Dazu müsste nicht einmal die Verfassung geändert werden. Natürlich kostet Bürgerbeteiligung Geld. Doch sie würde am Ende mit Sicherheit billiger ausfallen als eine Staatskrise, wenn Rechtspopulisten an die Macht kämen. Plakativ formuliert ist das ein Sonderangebot: 1 kg Demokratie für 5,99.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen