debatte: Strom fließt besser ungleich
Die Strombörse tut so, als sei Deutschland eine Kupferplatte. Durch den Zwang, dass Strom überall gleich billig sein soll, entstehen unnötig hohe Kosten
Bernward Janzing
arbeitet als freier Journalist in Freiburg vor allem zu den Themen Energie und Klimaschutz. In seinem jüngsten Buch „Vision für die Tonne“ erzählt er die Geschichte der Atomkraft und des Widerstands im deutschsprachigen Raum; dafür hatte er zahlreiche Zeitzeugen getroffen.
Auf dem Fischmarkt an der Küste wird der Fang günstiger angeboten als in der Kühltheke im Bayerischen Wald. Niemand findet das komisch oder schreit nach Regulierung. Denn jeder weiß: Die Preisbildung folgt schlichter Marktlogik, orientiert an geografischen Faktoren. Die lückenlose Kühlkette und der mehrfache Warenumschlag kosten dann eben.
Die Welt der Stromversorgung in Deutschland tickt anders. An der Börse wird der Strom stets so behandelt, als sei es völlig egal, wo der Erzeuger sitzt und wo der Verbraucher. So können in Stunden, da norddeutscher Windstrom die Preise am Spotmarkt abstürzen lässt, Unternehmen im Süden selbst dann billig Strom einkaufen, wenn die Energie rein physikalisch den Käufer gar nicht erreichen kann. Logik geht anders.
Die Erfinder des Strommarkts tun einfach so, als sei Deutschland eine Kupferplatte, die jede Kilowattstunde jederzeit überall hinbringen kann. Weil die Physik sich um Markt- und Börsenregeln aber nicht schert, sondern ihrer eigenen unbestechlichen Logik folgt, führt das im Netz zu Irritationen. Dann müssen die Übertragungsnetzbetreiber – abseits des Markts, ihrem regulatorischen Auftrag folgend – eingreifen und Kraftwerke an den richtigen Stellen im Netz abregeln oder hochfahren. Redispatch nennt man das. Weil der aber viel Geld kostet, gilt in der Stromwirtschaft das Dogma, das Land der Kupferplatte möglichst weit anzunähern – also in großem Stil Leitungen zu bauen.
Dass es auch anders geht, haben soeben Mathematiker und Volkswirte der Universität Trier und des Energie Campus Nürnberg simuliert. Ihr Fazit: „Regionale Preise und weniger Stromtrassen können zu einem großen volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen führen.“ Würde Deutschland in zwei Preisregionen unterteilt, eine nördliche und eine südliche, gäbe es „ein Einsparpotenzial von bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr“, rechnen die Wissenschaftler vor und sprechen von einem „Wohlfahrtsgewinn“. Die bestehende Netzarchitektur würde die Grenze der beiden Zonen definieren. Sie läge im Osten der Republik zwischen Bayern und den neuen Bundesländern, im Westen wäre sie nicht ganz so eindeutig. Die Frage ist: Passt man das Netz durch Trassenbau an einen etwas eigentümlichen Strommarkt an oder lieber den Strommarkt an die Physik des Netzes?
Spielen wir den Vorschlag gedanklich einmal durch, der davon ausgeht, dass künftig an der Börse der Strom im Süden und jener im Norden an separaten Märkten gehandelt wird: Was passiert? Wenn es keine Netzengpässe gibt, also in den meisten Stunden des Jahres, passiert gar nichts, die Preise in beiden Zonen sind gleich. Nur wenn der Windstrom rein physikalisch aufgrund von Netzengpässen nicht in den Süden fließen kann, liegen die Preise am Spotmarkt im Norden niedriger als im Süden.
Das hat Konsequenzen: Konventionelle Erzeuger im Norden geraten stärker unter Druck, ihre Erzeugung zu drosseln. Das beträfe vor allem die Kohle im Osten und in Nordrheinwestfalen. Und Kraftwerke im Süden kämen verstärkt zum Zuge. So würde der Markt auch ohne neue Leitungen das Netz ins Gleichgewicht bringen. Vergleichbare Modelle werden in Skandinavien und in Nordamerika längst praktiziert.
Dass man auch in Mitteleuropa lernfähig ist, zeigte sich im vergangenen Jahr, als sich Deutschland und Österreich, die bislang eine gemeinsame Strompreiszone bewirtschafteten, von einander abkoppelten. Seit der Trennung liegt der Strompreis im Großhandel in Österreich im Schnitt um einen dreiviertel Cent je Kilowattstunde höher als in Deutschland. Der Effekt ist so logisch wie erwünscht: Die Österreicher, die große Stromimporteure sind, werden bestärkt, mehr Strom selbst zu erzeugen.
Dass auch innerhalb Deutschlands die Großhandelspreise regionale Knappheiten oder Überschüsse dokumentieren, mag gewöhnungsbedürftig sein – allerdings nur, wenn man allein auf die vergangenen 20 Jahre blickt. In den 100 Jahren zuvor war es selbstverständlich, dass dort, wo Stromquellen üppig vorhanden waren, auch die Energie billiger war. Große Verbraucher siedelten sich daher dort an, wo es Strom gab. Am Hochrhein etwa: Rheinfelden wurde mit dem Bau des Wasserkraftwerks in den 1890er Jahren zum Standort energieintensiver Industrien. Ökonomisch war das sinnvoller, als den Strom durchs ganze Land zu transportieren.
Nach dem selben Muster hätten auch heute zwei Preiszonen in Deutschland Vorteile. Im Norden, wo es viel Wind gibt, wäre der Strom mitunter billiger zu haben, was die Ansiedlung von Verbrauchern fördern könnte. Im Süden würden neue Stromerzeuger attraktiver, was neben erneuerbaren Energien vor allem dezentrale Gaskraftwerke beträfe. Im Norden, wo die meisten Kohleblöcke stehen, außerdem die Atomkraftwerke Brokdorf, Emsland und Grohnde, würden diese stärker unter Preisdruck geraten. Zwei Preiszonen dürften somit die Erzeugungsstruktur im Sinne der Energiewende verschieben und zugleich die eine oder andere Fernleitung überflüssig machen. Für Haushalte wären die Auswirkungen unterdessen gering, für deren Strompreis spielen die Notierungen an der Strombörse nur eine untergeordnete Rolle.
Trotzdem wird das Zwei-Zonen-Modell in der Politik aus verschiedenen Gründen kaum diskutiert: Die Netzbetreiber bauen eben gern Netze, die süddeutschen Länder fürchten leicht anziehende Strompreise für ihre Industrie, die norddeutschen bangen um ihre alten Kraftwerke. Und die Politik scheut das Thema, weil es nicht ganz leicht kommunizierbar ist.
Dennoch: Aufgrund der Milliarden, die neue Stromtrassen kosten, und der Widerstände in den betroffenen Regionen, ist es an der Zeit, über zwei Preiszonen öffentlich zu diskutieren – und nicht mehr nur an den Lehrstühlen der Ökonomie.
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