das wird: „Eine Gesellschaft ohne Arbeit war für Marx sicherlich nicht vorstellbar“
Sozialismus-Forscher Till Schelz-Brandenburg stellt in einem Vortrag für den Verein zur Förderung des Müßiggangs Karl Marx’Sehnsucht nach einem Jenseits der Arbeit dar
Interview Benno Schirrmeister
taz: Herr Schelz-Brandenburg, bei Ihrem Vortrag über Marx und Müßiggang, da sind Sie schnell mit durch, oder?
Till Schelz-Brandenburg: Also erst einmal ist das Thema komplizierter. Der Vortrag beschäftigt sich ja mit der Haltung von Marx und dem Marxismus zu Müßiggang, und das sind schon mal zwei sehr unterschiedliche Sachen. Andererseits weiß ich nicht, was Sie denken, was Marx über Müßiggang und Arbeit geschrieben hat.
taz: Das Wort „Müßiggang“ selbst hat er jedenfalls nach meinem Wissen nicht sonderlich oft, und wenn, dann doch eher polemisch genutzt, so im Range einer rousseauistischen Wunschvorstellung …
Schelz-Brandenburg: Was das Wort betrifft, das mag sein. Aber als Konzept hat Müßiggang entscheidende Bedeutung für seine Theorie der Arbeit. Im dritten Band des Kapitals gibt es eine markante Stelle. Da heißt es sinngemäß – ich habe das Buch jetzt nicht vor mir liegen –, dass das wahre Reich der Freiheit erst jenseits der Arbeit beginnt.
taz: Also ist ihre Überwindung ein Ziel?
Schelz-Brandenburg: In dem besagten Abschnitt heißt es auch, die Zehn-Stunden-Bill, also dieses erste Gesetz zur Arbeitszeitbegrenzung, sei der erste Schritt dorthin. Also, das ist jedenfalls was anderes, als den Wunsch nach Müßiggang abzukanzeln als naive Vorstellung von Rousseau.
Otium-Vortrag zu „Marx, die Marxisten und ihre Haltung zum Müßiggang“, 22 .8., 18 Uhr, Otiumgarten, Geyerweg 10, Bremen. Sitzgelegenheit und Trinkglas mitbringen!
taz: Aber steht das nicht im Widerspruch zur Vorstellung von Arbeit als der „ewigen Naturbedingung menschlicher Existenz“, die Georg Lukács so wichtig war? Die findet sich doch auch im Kapital...
Schelz-Brandenburg: Ja, das ist richtig. Dabei geht es aber um die materielle Existenz des Menschen: Vielleicht leben wir in 50 Jahren in einer Roboterwelt. Aber so eine Gesellschaft ohne Arbeit war für Marx sicherlich nicht vorstellbar. Aber bei ihm beginnt, dialektisch gewendet, die wahre Freiheit, das wirkliche Humanum, in dem der Mensch zu sich selbst kommen kann, erst jenseits der Arbeit. Und zwar ganz egal, ob damit die Arbeit im Kapitalismus oder die im Sozialismus gemeint ist. Das ist eben ganz anders als bei Lenin, Stalin und ihren Epigonen, die immer behauptet haben, im Sozialismus, also in der Sowjetunion oder in der DDR, wäre Arbeit halt etwas ganz anderes. Nein, sagt Marx, auch das ist eben noch Unfreiheit.
taz: Dann würde also doch die Vorstellung von der Aufhebung der Arbeit aus den Frühschriften im Spätwerk einfach fortbestehen?
Schelz-Brandenburg: Bei Marx bleibt eigentlich nie ein Gedanke, den er 1847 mal geäußert hat, 20 Jahre unverändert bestehen: Er verstand sich durchaus als jemand, der permanent lernt und permanent seine Synthesen wieder infrage stellte. Und sein Werk ist durch diese grundsätzliche Offenheit gekennzeichnet. Deswegen sind Marx und das, was wir als Marxismus kennen, quasi Gegensätze, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Das beginnt ja schon gleich nach Marx’Tod, als Karl Kautsky 1887 seinen größten Bucherfolg mit der Schrift „Karl Marx’ökonomische Lehren“ landet.
taz: Das Wort „Lehren“ ist das Problem?
Schelz-Brandenburg: Damit beginnt etwas, was dann im Marxismus-Leninismus seinen Höhepunkt findet und die Marx’sche Theorie in einen feststehenden Katechismus ummünzt, der mit Karl Marx und seinem Werk nicht viel zu tun hatte.
taz: Hätte er dann in der Frage des Müßiggangs doch eher mit der Theorie seines Schwiegersohns Paul Lafargue sympathisiert als mit der marxistischen Orthodoxie?
Schelz-Brandenburg: Sie meinen Lafargues Schrift „Das Recht auf Faulheit“? Wahrscheinlich schon. Wobei Friedrich Engels seinerzeit etwas zwiespältig auf diese Broschüre reagiert hat. Und man sollte nie vergessen, dass der sozialistische Schriftsteller Lafargue die Satire liebte.
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