das wird: „Seit über einem Jahr im Ausnahmezustand“
Zum Reformationstag spricht Ruben Gerczikow in Hannover über plurale jüdische Identitäten
Interview Jonas Kähler
taz: Am Reformationstag beschäftigt sich die Landeskirche Hannover mit dem Judentum. Ist das so selbstverständlich?
Ruben Gerczikow: Eigentlich nicht. Bei den Kirchenleitungen sehe ich ein starkes Engagement gegen Antisemitismus und eine kritische Reflexion der eigenen Rolle in der Vergangenheit. Leider kommen diese Impulse nicht immer an der Basis an. Ich würde sagen, dass dort auch ein christlicher Antijudaismus nach den Bildern von Martin Luther existiert.
taz: Was hat sich seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auch in Deutschland für jüdische Menschen geändert?
Gerczikow: Es gibt wenige Ereignisse, die unser kollektives Leben derart in ein Davor und ein Danach geteilt haben. Gerade für jüdische Menschen hat sich das Zeitgefühl mit dem Terrorangriff der Hamas verändert. Und obwohl dieser Angriff in Israel stattgefunden hat, waren Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt gemeint.
taz: Inwiefern?
Gerczikow: Der Historiker Dan Diner hat das als genozidale Botschaft bezeichnet und ich glaube, jeder Jude und jede Jüdin auf der ganzen Welt hat diese Botschaft verstanden. Dass es einen eliminatorischen Antisemitismus gibt, und dass die Hamaws bereit ist, alles zu tun, um diesem Ziel näher zu kommen: der Auslöschung des jüdischen Staates und von Juden und Jüdinnen weltweit.
taz: Die Bilder des Angriffs haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt?
Ruben Gerczikow
27, Publizist recherchiert zu antisemitischen Strukturen in analoger und digitaler Welt.
Gerczikow: Genau, das ist auch psychologische Kriegsführung der Hamas gewesen, diese Bilder in dieser Brutalität auch so zu veröffentlichen.
taz: In Deutschland ist seitdem die Anzahl antisemitischer Vorfälle stark gestiegen. Von wo kommt hier die Gefahr für Juden und Jüdinnen?
Gerczikow: Zum einen geht die Gefahr von denjenigen aus, die verbal oder körperlich Juden und Jüdinnen angreifen. Das ist eine Vielzahl von Personen, zum einen aus linken Kreisen, das muss man so ganz klar sagen, aber auch aus muslimischen Communities und weiterhin aus dem rechtsextremen Milieu.
taz: Und zweitens?
Gerczikow: Auf der anderen Seite, ist auch die Mehrheitsgesellschaft mitverantwortlich, die sogenannte Mitte der Gesellschaft, die durch ihr Schweigen, ihr Relativieren oder durch ihr Negieren auch zu einer Atmosphäre beiträgt, in der Antisemitismus normalisiert stattfinden kann.
Vortrag und Diskussion „Herausforderungen für die Identität junger jüdischer Menschen“, Kreuzkirche Hannover, 30. 10., 19 Uhr
taz: Sie haben in Ihrem Buch „Wir lassen uns nicht unterkriegen“, beschrieben, wie jüdische Identitäten erinnerungskulturell auf die Rolle des passiven Opfers reduziert werden, sich junge Menschen aber auch für jüdische Pluralität einsetzen. Wie gelingt dies seit dem 7.Oktober?
Gerczikow: Es gelingt weniger gut, als es in den letzten Jahren funktioniert hat.
taz: Woran liegt das?
Gerczikow: Unter anderem daran, dass junge Juden und Jüdinnen, vor allem diejenigen, die sichtbar in der Öffentlichkeit sind, sich seit über einem Jahr in einem Ausnahmezustand befinden. Sie müssen gegen Relativierungen oder auch Negierungen von Antisemitismus und israelbezogenem Antisemitismus ankämpfen. Das bindet Ressourcen, die für andere Themengebiete dann fehlen.
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