piwik no script img

das portraitErst freigesprochen, nun verurteilt? Der russische Historiker Juri Dmitrijew

Er kenne die Geschichte seines Landes so gut, dass er keine Illusionen habe, wo er lebe, meint Juri Dmitrijews Anwalt über seinen Mandanten. Am Mittwoch soll ein Gericht in Petropawlowsk auf der russischen Halbinsel Kamtschatka über den Historiker ein zweites Urteil fällen. Die Staatsanwaltschaft forderte 15 Jahre wegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauchs – und das, obwohl ihn ein anderes Gericht bereits von den Vorwürfen freigesprochen hat.

Der Prozess, der nun einen neuen Ausgang nehmen könnte, begann Ende 2016. Dmitrijew wurde unter einem Vorwand zu einer Befragung aufs Amt bestellt. Als er zurückkam, stellte er fest: Jemand musste von seinem Computer Fotos der Adoptivtochter runtergeladen haben. Nacktfotos, die er für das Jugendamt erstellt hatte, um die gesundheitliche Entwicklung der Tochter zu dokumentieren, wie er sagt. Dmitrijew war zunächst selbst als Heimkind aufgewachsen. Kurz nach der Vorladung ins Amt und dem mysteriösen Einbruch stand Dmitrijew unter Verdacht der russischen Behörden.

Dmitrijew wuchs in einer russischen Offiziersfamilie in Dresden auf. 1989 arbeitete der heute 64-Jährige als Assistent eines Abgeordneten des Moskauer Volksdeputiertenkongresses. Dort befasste er sich erstmals mit der Rehabilitation unterdrückter Völker unter Stalin. In den 90ern hat sich Dmitrijew der Aufarbeitung des Großen Terrors verschrieben. Die Ergebnisse der Jahre 1937/1938 unter Stalin kennt Dmitrijew sehr genau. Er hat sie selbst erforscht und Rudimente der Leichen in Händen gehalten. Es war in einem Waldstück bei Sandarmoch im Norden, wo 10.000 Menschen erschossen und verscharrt worden waren. Dmitrijew kennt die Erbarmungslosigkeit der sowjetischen und der russischen Justiz. Bevor sie einen Fehler zugibt, jemanden freispricht, schickt sie Angeklagte lieber ins Verderben. Dmitrijews Anwalt glaubt: So macht sie es nun auch bei seinen Mandaten. Um einen Historiker zu diskreditieren, der die Sowjetunion in ein schlechtes Licht rückt.

Zunächst sah es aber nicht danach aus. Die Fotos auf Dmitrijews Rechner führten zu einem ersten Prozess wegen Kindesmissbrauch, von dem der Historiker 2018 jedoch freigesprochen wurde. Und das trotz eines Gefälligkeitsgutachtens des „Zentrums für soziokulturelle Analysen“. Vor einem russischen Gericht ist das eine Seltenheit. Bei 99 Prozent der Fälle wird aus einem Verdacht ein Schuldspruch gedrechselt. Doch schon bei dem ersten Urteil fiel auf, dass der Eindringling nicht ermittelt wurde.

Zwei Monate später jedoch hebt das Oberste Gericht Kareliens den Freispruch des Stadtgerichts auf und erneuert die Anklage wegen Missbrauchs. Es folgen sexologische und psychiatrische Gutachten.

Dmitrijew fürchtet weniger die Haft als die Behandlungen durch andere Gefangene, sagte er in einem Interview. Sexualstraftäter seien für Mitinhaftierte Abschaum. Dmitrijew wird es vielleicht verkraften. Die Adoptivtochter, der das zweite Leben geraubt wird, wohl nicht.

Klaus-Helge Donath, Moskau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen