das ding, das kommt: Demokratie für das Gift
Wäre es ein Quartettspiel, hätte der Stechapfel alle anderen Kandidat:innen gestochen: „Sehr stark giftig“ ist er nämlich und die anderen – Rhododendron, Seerose, Efeu und Schlafmohn – sind bloß „stark giftig“. Und natürlich wurden all die Giftpflanzen umrankenden „pharmazeutisch-biologischen Lerninhalte“ tatsächlich längst „von erfahrenen Hochschullehrern als Quartettspiel aufbereitet“, wie der aufftragggebende Govi-Verlag sein „Pharmatett Giftpflanzen“ bewirbt (Achtung: Dessen Karten zu Hause unbedingt von jenen des „Pharmatett Selbstmedikation“ trennen!).
Aber so darwinistisch läuft die Suche nach der Giftpflanze des Jahres, die der Botanische Sondergarten Wandsbek in Hamburg seit 2005 ausschreibt, nicht: Keine erfahrenen Hochschullehrer:innen selektieren, welche Pflanze ein Jahr lang vorgestellt werden soll, um darauf hinzuweisen, dass man sie „lieber nur ansehen und nicht berühren oder verzehren sollte“.
Stattdessen kann sich jeder Mensch weltweit an der Wahl beteiligen, im „Online-Wahllokal“ oder per Anruf beim Botanischen Sondergarten. Schon die Kandidatensuche ist ganz basisdemokratisch: Jede:r kann eine Pflanze vorschlagen, nur schön giftig muss sie eben sein. Zwischen zwei Nominierungen müssen mindestens fünf Jahre liegen und eine bereits gewählte Pflanze kann nicht wieder als Kandidat:in nominiert werden.
Und da gibt es dann eben wie bei jedem Buhlen um die Wähler:innengunst Kanditat:innen, die ein paar Mal antreten, aber nie gewinnen (Stechapfel, Efeu, Rhododendron), und forsche Neukandidat:innen, die sich richtig an die Wähler:innenschaft ranschmeißen mit gefährlichen Versprechungen.
Erstmals dabei ist dieses Jahr etwa der Schlafmohn, dessen „Säftchen“ und was man alles daraus herstellen kann schon vor der Kandidatur eine Menge mitunter fanatischer Anhänger:innen hatte – und Gegenstand verheerender Kriege war und ist. Schließlich verspricht vor allem das in ihm enthaltene Morphium süßen Schlaf und Freiheit von Schmerz.
Aber siehe da: Am meisten Stimmen hat bis zur Verkündung eines Zwischenstandes Ende November der Efeu bekommen. Anhänger:innen der anderen können also bewusst strategisch nachsteuern. Oder lieber die Finger davon lassen? Weil es Gift für die Giftpflanzendemokratie ist, vorher zu wissen, wer führt?Robert Matthies
Giftpflanze des Jahres 2021: Abstimmung noch bis Di, 15. 12., unter www.hamburg.de/wandsbek/gdj-abstimmung/ und ☎040-693 94 34
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen