crime scene: Die Leiche im Keller
Was wirklich am Grunde dieser düsteren Familiengeschichte liegt, ist in seinem vollen Ausmaß nur ahnbar. Doch eine Sache wird von Beginn an klar formuliert: Es liegt eine Leiche im Keller. Der Ich-Erzähler selbst, so erklärt er, habe als Teenager einen Brunnen dort unten gegraben und eines Tages den Vater hineingestoßen. 16 Jahre alt soll der Erzähler damals gewesen sein. Nun ist er erwachsen, ebenso wie seine beiden Schwestern, die um ein paar Jahre ältere und wunderschöne Elli, und die jüngere Thea, von der ihr Bruder sagt, sie habe dasselbe „Allerweltsgesicht“ wie er selbst.
Während Elli hinaus in die Welt gegangen ist, um Karriere zu machen, hat Thea geheiratet, Kinder bekommen und ist Hausfrau geworden. Der Bruder, das mittlere Kind, ist im Haus geblieben, um die demente Mutter zu pflegen und den im Kellerloch dahinvegetierenden Vater zu versorgen. Und jetzt, nach vielen Jahren, kommen sie alle wieder im Elternhaus zusammen, weil der Vater gestorben ist.
Wie in einem einzigen Erzählstrom scheint alles auf einmal aus dem Erzähler herauszufließen: Gegenwart und Rückblenden gehen ineinander über, Gespräche mit den erwachsenen Schwestern triggern Episoden aus der Kindheit, dann wieder gibt der Erzähler Sitzungen mit seiner Therapeutin – die „keine Ahnung von Menschen“ hat – wieder, und zwischen allem muss die demente Mutter versorgt werden, die sich schon längst aus der Wirklichkeit verabschiedet hat.
Was genau der Vater alles getan hat, um einen langsamen Tod auf dem Grund des Kellerlochs zu verdienen, wird niemals klar ausgesprochen. Die Schreckensherrschaft, die er zu Hause errichtet haben muss, ergibt sich aus Andeutungen. Legenden wurden für die Öffentlichkeit erfunden wurden, um Gewaltexzesse des Vaters zu verschleiern. Und so fragt der Erzähler denn: „Und wenn jeder, jeder Einzelne, davon überzeugt ist, ist es dann nicht auch wahr?“
Fast dasselbe trifft aber auch auf seine eigene Erzählung zu. Dass es eine Alternativgeschichte zum Brunnen im Keller geben könnte, gibt er an genau einer Stelle zu erkennen, die aber gleich wieder vom langen gleichmäßigen Erzählfluss überspült wird. Aber obwohl es unmöglich zu sagen ist, was wahr ist und was nicht, spielt diese Frage im Grunde auch praktisch keine Rolle.
Sylvia Wage: „Grund“. Eichborn Verlag, Köln 2021, 176 Seiten, 20 Euro
Mit „unzuverlässigem“ Erzählen hat das alles nur bedingt zu tun. Der Erzähler will weder uns noch sich selbst täuschen; er erzählt seine Geschichte im Grunde im vollen Bewusstsein dessen, dass das Erzählen ihm die einzige Möglichkeit eröffnet, aus einer traurigen Lebensgeschichte voller Hoffnungslosigkeit und Selbstaufopferung eine farbige Legende von energischem, gewalttätigem Widerstand zu machen. Es ist eine Geschichte, wie sie im 18. Jahrhundert die Brüder Grimm für ihre Sammlung oft blutrünstiger „Haus- und Kindermärchen“ zusammentrugen. Damals hatten die Menschen noch keine Therapeutinnen und bewältigten ihre familiären Traumata allein mit Hilfe von finsteren Fantasien. Sylvia Wage zeigt eindrücklich, dass mit ähnlichen Methoden auch heutzutage noch Literatur entstehen kann.
Katharina Granzin
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