buchmessern: Schulze und Schüler
■ Anschwellender Leichtsinn in Leipzig
Leipziger Straßenbahnen sind unsentimentale Schüttelbüchsen. Eine halbe Stunde Geholper übers pure Pflaster – und sämtliche Plomben im Mund sind verrutscht. Wie die Gedanken wieder ordnen? Zum Ausgleich gibt es auf der Fahrt zum Messegelände ein Kulturprogramm: Damit Ihnen die Zeit nicht zu lang wird! Ein Mann mit Rastafrisur entlockt seinem Saxophon schneidende Töne, und eine putzmuntere Sächsin mit Perücke und aufgemalter Zahnlücke nervt die Fahrgäste: Fohr'n Sie ooch zur Messe?
Die ersten Hallen, die vor der Stadt auftauchen, sind gigantische Baumärkte, die darauf schließen lassen, daß des Leipzigers liebste Beschäftigung das Werkeln an Haus und Herd sein muß. Dann: Einkaufszentren, Parkplätze und ein McDonald's- Pavillon auf der grünen Wiese. Es sieht aus wie in Amerika. Daran erkennt man, daß man im neuen Osten ist.
Die Messehallen, seltsam in dieses Niemandsland gewürfelt, stehen blitzeblank da, mit Bäumchen, Wasserbecken und allem, was dazugehört. Man erkennt in der Anlage noch genau das Modell vom Reißbrett. Sehr schick wirkt die zentrale Glashalle, ein langgestrecktes, weiträumiges Gewölbe aus nichts als Glas und Eisen. Sie bietet den schönen Vorteil, daß man auch bei schlechtem Wetter draußen sitzen kann. „Mitterrand-Moderne“ nennt der Verleger K. D. Wolff diese technizistische Edelarchitektur.
Zwei Themen bestimmen den ersten Messetag: Ingo Schulze und die Invasion der Schulklassen. Ingo Schulze ist unbestritten der Star, weil jede Messe einen Star braucht. Seine Geschichten aus „der ostdeutschen Provinz“ mit dem Titel „Simple Storys“ wurden in fast allen Feuilletons so großräumig gelobt, als hinge die Zukunft der Literatur von diesem Buch ab.
Beim Berlin Verlag reibt man sich die Hände vor Freude: Heute schon wieder 1.000 Stück verkauft! Das schaffen andere Bücher im Leben nicht. Ingo Schulze tritt hinzu und kündigt anschwellenden Leichtsinn an: „Ich glaube, ich leiste mir heute mal ein Taxi in die Stadt.“
Die Invasion der Schulklassen ist am Nachmittag bereits zu einem geradezu biblischen Geschehen geworden, von dem an allen Ständen berichtet wird. Wie die Heuschrecken seien Tausende und Abertausende von Schülern lärmend durch die Halle gezogen, daß sich der Himmel verdunkelte, und hätten alles abgegriffen, was in ihre Tüten paßte: Aufkleber, Bücher, Broschüren, Lollis und Plakate.
Sämtliche Schulklassen der näheren und weiteren Umgebung, so scheint es, wurden nach Leipzig gefahren, damit die Besucherzahlenstatistik stimmt. Nach ihrem Abgang wirkte das Messegeschehen eher gedämpft, verlangsamt, als stellten alle eine Buchmesse nur dar und glaubten eigentlich nicht an das, was sie hier tun.
Der alte Leipzig-Effekt, auf überschaubarem Raum zwangsläufig auf Schritt und Tritt Bekannten zu begegnen und so in einen unwirklichen Zustand des Dauergrüßens zu verfallen, stellt sich zwar auch im Neuen Messegelände rasch ein. Und doch ist das Gefühl, hier einem Riesenschwindel aufzusitzen, nicht zu übertönen.
Alle Verlage, auch die größten, bescheiden sich mit kleinen, unscheinbaren Ständen und sparsamer personeller Besetzung. Man will dabeisein, aber nicht investieren. Die Bücher lagern lieblos in den Wandregalen, es sind die Kollektionen vom vergangenen Herbst und Winter. Man zeigt, was man hat; eine Buchprogrammtapete würde es aber eigentlich auch tun. Jörg Magenau
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