brüsseler blase: Angst vor der Demokratie
die eu-parlamentskolumne
VON Eric Bonse
Jean-Claude Juncker hat sich rargemacht im neuen Jahr. Der Chef der EU-Kommission flog nach Malta und nach Zypern, statt in Brüssel den Kurs für 2017 vorzugeben. Juncker duckt sich weg, sagen böse Zungen.
Auch Martin Schulz fehlt. Seit er seinen Wechsel nach Berlin angekündigt hat, wurde er in Brüssel kaum noch gesehen. Ausgerechnet im schwierigen „Schicksalsjahr“ der EU geht ein wichtiger Steuermann von Bord.
Dabei braucht Europa klare Kante. 2017 wird in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland gewählt. Bald übernimmt Donald Trump das Weiße Haus in Washington. In Ankara greift Recep Tayyip Erdoğan nach der Macht. Höchste Zeit, die EU neu aufzustellen und fit zu machen für den Streit mit Oligarchen, Autokraten und Populisten, sagen viele. Doch in der Brüsseler Blase ist niemand, der sich den Problemen stellen würde.
Der Politikbetrieb hat gerade ganz andere Sorgen. Er muss einen Ersatz für Parlamentspräsident Schulz finden. Am nächsten Dienstag wird in Straßburg sein Nachfolger gewählt – und niemand weiß, wie das gehen soll. Bisher waren es die Europaabgeordneten nicht gewohnt, sich frei zwischen mehreren Kandidaten zu entscheiden. Immer war klar, wer der Chef wird. Vor Schulz’ Wahl gab es sogar eine schriftliche Absprache.
Die haben die Sozialdemokraten jetzt gebrochen. Sie haben die Große Koalition mit den Konservativen aufgekündigt und einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt. Der hat aber keine Mehrheit, ebenso wenig wie sein konservativer Gegenspieler.
Und so müssen sich Gianni Pitella (Sozialdemokraten) und Antonio Tajani (Konservative) einer Kampfabstimmung stellen. Der Ausgang ist ungewiss. Das letzte Wort haben nicht die Fraktionschefs, sondern die Abgeordneten.
Hurra, im Europaparlament wird endlich richtig gewählt, freuen sich manche. Jetzt wird Politik gemacht, die Zeit der undurchsichtigen Hinterzimmerdeals ist vorbei! Doch in der Brüsseler Blase sieht man das anders. Hier hat man Angst vor der Wahl und ihrem Ausgang. Hier fürchtet man, dass am Ende nur die Populisten gewinnen. Fast könnte man meinen, Europa fürchte sich vor der Demokratie.
Juncker und Schulz sind daran nicht ganz unschuldig. Sie haben nicht nur die Groko gehegt und gepflegt, sondern auch noch die EU-Gesetzgebung in einer Kungelrunde abgesprochen. Die „G 5“ hatte alles unter Kontrolle.
Doch das ist nun wohl auch vorbei. Und genau davor hat die Brüsseler Blase Angst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen