bernhard pötter über Kinder: Besiegt von den Lehren Gandhis
Erfolgreichen gewaltfreien Widerstand hat Mahatma Gandhi nicht erfunden, sondern seinen Kindern abgeschaut
Abendessen bei Familie Gandhi, Neu-Delhi, Independence Square 3–5, 18.17 Uhr.
Harilal: „Papa, im Reis sind so eklige schwarze Dinger. Ich ess das nicht.“
Manilal: „Papa, Ramdas hat in meinen Tee gespuckt.“
Ramdas: „Stimmt ja gar nicht. Und nur, weil Manilal seine Popel auf meinen Teller geschmiert hat.“
Devdas: „Hhhhhhh, chchch.“ Er hat sich an einer Fischgräte verschluckt, läuft blau an und rutscht röchelnd unter den Tisch.
Und mitten zwischen seinen vier Söhnen sitzt Mohandas Karamchand Gandhi, gütig lächelnd, mit ruhiger Stimme das Chaos schlichtend. Kein böses Wort, kein Geschrei, keine Wutausbrüche.
So stelle ich mir den Alltag im Hause Gandhi vor. Allerdings schreiben seine Biografen, der große Philosoph und Politiker sei sanft zum Rest der Welt, aber harsch und fordernd zu seiner Familie gewesen. Ein immer liebevoller Vater war er offenbar nicht. Aber wer ist das schon. Meine gebellten Befehle im Kinderzimmer will ich auch nicht im Who’s who nachlesen müssen.
Dabei hatte Gandhi allen Grund, seinen Kindern dankbar zu sein. Schließlich haben sie ihn erst auf die Ideen gebracht, mit denen er bekannt und erfolgreich wurde und die Welt der Politik verändert hat. Keineswegs war Mahatma Gandhi ja der Softie und Fakir, der sich mit einem „Ey, Leute, Peace und so“ auf die Meditationsmatte zurückzog. Ganz im Gegenteil ist seine Strategie der gewaltfreien Konfliktregelung eine Theorie des politischen Machtkampfes. Wichtigstes Mittel: Nichtzusammenarbeit mit den Machthabern („non-cooperation“) und ziviler Ungehorsam („civil disobedience“). Die Macht der Regierenden, so Gandhi, beruht letztlich auf der Mitarbeit der Beherrschten.
Kinder begreifen das sehr schnell. Die non-cooperation bei meinem Sohn beginnt mit einem simulierten Hörfehler: „Jonas!“, „Jooonas, Hallooo!“, „Joooonaaaas!!!“ Schweigen im Walde, keine Reaktion im Kinderzimmer. Dann wird ignoriert („… hab ich nicht gehört …“), widersprochen (“… mach ich nicht …“), verzögert („… muss erst noch …“), abgelenkt („… wollen wir nicht lieber …“), sodass ein Arbeitsamt dagegen eine gut geölte Effizienzmaschine ist.
Nächste Stufe ist die freundliche, aber offene Rebellion: Mit neun Monaten befindet sich unsere Tochter ohnehin im Stadium des fröhlichen Anarchismus. Und Jonas praktiziert den zivilen Ungehorsam wie ein alter Politstratege: Geht der morgendliche Weg zur Kita rechtsrum, läuft er links Richtung Spielplatz. Wenn er einen Apfel essen soll, holt er sich die Schokolade. Und wenn man los muss, liegt er auf dem Boden und rührt sich nicht. Seit Jonas laufen kann und manchmal nicht laufen will, verstehe ich die verkniffenen Gesichter bei den Polizisten, die die Sitzblockaden vor Mutlangen oder Gorleben auflösen. Zivilem Ungehorsam zivil zu begegnen, lässt mir manchmal vor unterdrückter Wut die Hände zittern.
Eine dritte Stufe des Protests hat das Genie Gandhi übrigens übersehen, vielleicht weil er zu streng zu seinen Kindern oder zu selten zu Hause war: Die Zermürbung des Gegners durch anhaltenden Akustikterror. Am effektivsten so zwischen zwei und fünf Uhr morgens.
Und da sich Geschichte wiederholt, verhalten wir uns wie die Engländer als Besatzungsmacht in Indien. Paternalistisch ignorieren wir den Protest und belächeln ihn als niedlichen Ausdruck von Hilflosigkeit. Dann verstärken wir die Repression und überziehen das Kinderzimmer mit selektivem Terror („Aufräumen, sonst keine Gutenachtgeschichte!“). Schließlich geben wir klein bei. Die gewaltfreie Erziehung der Eltern funktioniert.
„Keine Sorge“, sagt meine Frau. „Wir zahlen es ihnen heim. Wenn wir erst mal alt sind, gehen wir ihnen noch schlimmer auf den Wecker. Wir hören nichts mehr, wir machen, was wir wollen, wir nörgeln an allem rum und machen ihnen ein schlechtes Gewissen.“ Und außerdem, sagt Anna, geht es ja noch weiter: Wenn unsere Kinder erst mal selber Kinder haben sollten, nehmen wir sie von zwei Generationen aus in die Zange. Dann zerren Kinder und Großeltern an ihren Nerven.
Wenn ich daran denke, überkommt mich Mitleid mit meinen Kindern. Und schon bin ich da, wo Mahatma Gandhi mich haben wollte: Eigenes Leiden bringt die Herrschenden zum Mitleiden und untergräbt ihren Widerstand. „Also gut, Jonas, von mir aus kannst du im strömenden Regen die Sandalen anziehen.“
Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de
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