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bernhard pötter über KinderZuckerbrot und Windpockenalarm

Autofahren mit unserer Tochter ist die Hölle auf Erden. Aber auch die Bahn ist mindestens das Fegefeuer

Mein Onkel Frank hat Flugangst und deshalb seine eigene Theologie: „Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel gegeben.“ Ich dagegen glaube: Wenn ER gewollt hätte, dass wir Auto fahren, hätte er uns die 360-Grad-Augen der Stubenfliege gegeben. Oder den körpereigenen Airbag des Helmut Kohl. Auf jeden Fall aber hätte er uns taub gemacht.

Denn sobald die Gurte an ihrem Kindersitz einrasten, beginnt meine Tochter zu protestieren. Hastig klettert der Rest der Familie in das Auto und braust los. Ist doch nur eine gute Stunde!

Tina schreit.

Ich rassele mit Tinas Lieblingsrassel vor ihrer Nase. Ich blättere spannende Bücher vor ihr auf. Ich säusele beruhigend auf sie ein. Ich gebe ihr zu trinken. Ich reiche ihr die Knistertüte zum Reinbeißen.

Tina heult.

„Nicht weinen!“, ruft Jonas aus seinem Kindersitz. Er winkt mit ihrer Lieblingspuppe. Er zeigt ihr, wie man Spuckebläschen macht. Er hält sich die Ohren zu.

Tina brüllt.

Anna sitzt am Steuer und versucht, die Tochter im Sitz hinter ihr zu beruhigen. Einziges Resultat: Schleudertrauma im Nacken. Im Geist lässt meine Frau die schwarz getönte schallsichere Scheibe zwischen Chauffeur und Fond herunter. Ich kann es ihr nicht verdenken.

Tina kreischt.

Jetzt hilft nur noch die Zuckerbombe. Ich reiße die Kekstüte auf und stecke einen schmierigen Schokokeks in das rot angelaufene Gesicht meiner Tochter. In ihre kleinen Hände quetsche ich Gummibärchen, die Trinkflasche wird mit Apfelsaft gefüllt. Die Rückbank des Autos verwandelt sich in das Bahlsen-Probierstudio. Hat mal jemand errechnet, wie viel Umsatz die Zahnärzte dem Automobil verdanken?

Voll gestopft mit Zucker schläft Tina endlich ein. Als sie die Augen schließt, bremst Anna. Wir sind da.

Normalerweise passiert uns so etwas nicht. Normalerweise fahren wir Bahn. Wir sind nämlich die Guten. Aber die Deutsche Bahn AG macht es einem auch nicht einfach, für die Schonung der Nerven und der Umwelt den Zug zu nehmen.

Als wir in Ulm den ICE nach Berlin besteigen, sitzt auf einem unserer reservierten Fensterplätze ein 40-jähriger schwäbischer Muffelkopp. „Entschuldigen Sie, diesen Platz haben wir reserviert, und übrigens ist das ein Kinderabteil“, sagt Anna freundlich. Der Muffelkopp schaut aus dem Fenster und sagt nichts. So sitzt er bis Stuttgart und stinkt uns das Abteil voll. Bei Kassel bricht im Nachbarabteil die offene Revolte aus: eine Mutter ist mit ihren Windpockenkindern unterwegs nach Hause. Eine andere Mutter empört sich. Aber was soll die Frau machen? Bei der Bahn ein Quarantäneabteil bestellen? Bei Braunschweig beschwert sich eine kinderlose Reisende über den Lärm der tobenden Kids.

Die Bahn fährt eine große Imagekampagne. Parallel dazu läuft eine andere Aktion: So viele Eltern wie möglich auf die Straße zu verlagern und so viele zukünftige Bahnfahrer wie möglich zu vergraulen. „Was willst du denn, es gibt doch Kinderabteile“, sagt mein Onkel Frank. Aber in einem Zug mit 1.000 Sitzplätzen sind ab und zu mehr als drei Kinder unterwegs. Und die Kinderabteile sind einfach normale Abteile, in denen die Kinder weggesperrt werden, um den Rest der Fahrgäste nicht zu belästigen. Pech für die Bahn, dass man mit ihr ins Ausland reisen kann: In der Schweiz und in Schweden gibt es Züge mit richtigen Spielabteilen. In Chur hätten wir es fast mal verpasst, aus dem Zug zu steigen: Jonas war partout nicht vom Wippepferdchen runterzubekommen.

Zugegeben: Kinder im Großraumabteil können wirklich an den Nerven sägen. Wer in Ruhe lesen, dösen oder arbeiten will, kann sich am Gekreisch und Gebalge von Dreijährigen nicht recht erfreuen. Aber wie die Bahn mit ihren kleinen und noch nicht zahlenden Kunden umgeht, ist so kurzsichtig, als würde die Autoindustrie sich weigern, Kindersitze herzustellen. Man gebe dem zuständigen Bahnvorstand für den Personenverkehr, Herrn Dr. Christoph Franz, zwei Kinder an die Hand (Alter zwei und fünf Jahre, süchtig nach Zucker und Benjamin Blümchen, mit durchschnittlichem Bewegungsdrang und normalem Stimmvolumen) und lasse ihn zweimal im Monat am Freitagnachmittag im ICE von Frankfurt nach Hamburg fahren. Ganz schnell gäbe es Kinderwaggons.

„Papa, ich muss! Dringend!“, ruft Jonas mitten in meine Gedanken. Mit Hochgeschwindigkeit rasen wir aufs Klo. Als mein Sohn über der Schüssel hängt, lese ich die Inschrift an der Wand. „Bitte verlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn vorzufinden wünschen.“ Die Bahn hat wirklich überhaupt keine Ahnung von Kindern.

Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de

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