bernhard pötter über Kinder: Begrenzt zurechnungsfähig
Erwachsene haben kein Heimweh – nur wenn sie Kinder haben, dann wird Reisen schlimm
Dass es mal so weit mit mir kommen würde, hätte ich nicht gedacht. Kurz bevor ich im Morgengrauen das Haus verlasse und meine Koffer die Treppe runterschleppe, stecke ich mir noch schnell zwei Fotos ein. Jonas auf dem Balkon, wie er frech in die Kamera grinst. Tina auf dem Bett, wie sie stolz auf einem Kissen thront. Vielleicht will ich mich mal an meine Kinder erinnern, wenn ich drei Wochen lang am anderen Ende der Welt bin.
Bis vor zwei Wochen war das für mich der Inbegriff der Spießigkeit: die Bilder der Lieben und der Liebsten, die dann irgendwann „Rein zufällig habe ich ein paar Fotos bei“ auf den Tisch kamen. Was interessiert mich, wie anderer Leute Frauen, Männer, Kinder, Hunde aussehen? Wer schleppt so was in seiner Brieftasche mit?
Ich zum Beispiel. Immerhin sind die beiden 10x15-Farbbilder auf Kodak-Papier mit dem Stempel 07 02 das kleinste Stück Zuhause, das man mitnehmen kann. Wenn ich schon von morgens bis abends in einem zugigen Pressezentrum rumlungere, weil im Hotelzimmer nichts und niemand auf mich wartet, dann sind die Fotos ein kleiner Trost. Eine Aufmunterung. Eine kleine Wärmequelle.
Ich werde sentimental.
Na und? Ich kann mir das erlauben. Ich bin Vater.
Ein Anruf zu Hause. Kurz nach sieben. Nach dem Sandmann. Jonas ist am Apparat. Oder eigentlich doch nicht.
„Papa …?“
„Jonas, hallo, ich bin hier. Wie geht es dir?“
„Gut.“
„Wie war es denn in der Kita? Erzähl mal.“
„Gut.“
„Jonas, ich bin in Afrika. Ganz weit weg.“
„Afrika?“
„Ja, hier gibt es Löwen und Elefanten.“ Irgendwo jedenfalls. Alles, was ich den ganzen Tag sehe, sind Videobildschirme.
„Löwen?“
Das ist nicht mein Sohn am anderen Ende der Leitung. Normalerweise redet er wie ein Wasserfall. Vor allem über Löwen und Elefanten. Also schaue ich mir wieder die Bilder an. Sie sind Jonas ähnlicher als die Stimme am Telefon. Er fehlt mir. Und wie. Tina fehlt mir. Anna fehlt mir. Und dann merke ich: Ich habe Heimweh.
Das darf eigentlich nicht sein. Wir Erwachsenen stehen da drüber. Wir fahren ja freiwillig weg. Niemand packt uns in ein Auto und transportiert uns weit weg von unseren Spielsachen. Reisen bildet. Wir nehmen unsere Spielzeuge mit. Und um Dienstreisen wird man beneidet. Man sieht die Welt, und die Kollegen schmoren im eigenen Saft. Und man prasst auf Kosten des Arbeitgebers. Zum Beispiel kalte Pommes im Hotelbett, während im Fernsehen die Wetterfee von CNN über den Wirbelsturm vor Madagaskar berichtet.
Eltern sind anfällig, nicht nur für Windpocken. Auch für Gefühle, die von Herz bis Schmerz reichen. Als Jonas ein paar Monate alt war, besuchte ich das Holocaust-Museum in Washington. Die Bilder von den Opfern und Tätern kannte ich seit Schulzeiten. Aber bei den Fotos von den Kindern im Warschauer Ghetto musste ich plötzlich heftig schlucken. Offenbar war das Brutschutzgen im Vater zum Durchbruch gekommen. Seitdem kann ich keine Berichte über Kindesmissbrauch lesen, ohne Beklemmungen zu bekommen. Und ich finde Eltern gar nicht so durchgeknallt, die ausrasten, wenn ihre Kinder vom Auto angefahren werden.
„Wer Kinder hat, ist eben nur begrenzt zurechnungsfähig“, sagt Anna. Sie denkt da allerdings mehr an ihr Schlafdefizit. Oder daran, dass wir immer alle Termine vergessen, mit Spuckflecken von Tina auf dem Pullover rumlaufen und seit Jahren nicht mehr im Kino waren. Ich sehe bei den Erziehungsberechtigten eher die mentalen Schranken. Wer bricht sonst in Tränen aus, wenn kleine Schmierfinken Kreise aufs Blatt krakeln und behaupten, das sei Mama? Wer freut sich über den ersten Rülpser und den letzten Scheiß? Wer kriegt Heimweh, wenn er mal zwei Wochen weg ist?
„Bei Zigaretten wird doch auf der Packung davor gewarnt, dass sie der Gesundheit schaden“, sagt Anna. „Kinder sollten auch einen Warnhinweis bekommen: Die EU-Erziehungsminister: Kinder beeinträchtigen Ihren Seelenfrieden.“ Im Sinne des umfassenden Verbraucherschutzes warnen wir dann auch vor den Gefahren des Zu-Fuß-Gehens, des Atmens, des Toilettenbesuchs und vor allem vor den Abgründen der Liebe. Nachwuchsbekloppte der Welt, vereinigt euch! Parents’ pride! Bei der nächsten Reise nehme ich auch ein Foto meiner Frau mit.
Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de
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