berliner szenen: Kleiner Wurf, große Gefühle
Letztes Jahr fand der Baum im Dauerregen keinen Halt mehr. In diesem Sommer regnet es nie. Da liegen die Erinnerungen im Garten schön trocken.
I ch hatte es in den Garten geworfen. Irgendwo las ich mal, dass man manche Erinnerungen besser eliminiert. Also schleuderte ich das Buch, das mir zuvor unter einem Baum Gesellschaft geleistet hatte, durch das Küchenfenster.
Nun lag es irgendwo bei den letzten Resten des Baumes, der im vergangenen Sommer in meine Küche gefallen war. Da hatte es drei Tage geregnet, ich lag schwitzend auf dem Bett und dachte gerade an ein Boot, das mich retten sollte. In diesem Sommer regnet es nicht. Das Buch lag trocken.
Ich bin schon einmal so ausgerastet. Und noch einmal als Kind. Also zweimal. Ich kann mich nicht erinnern, was das Drama ausgelöst hatte. Ich war sechs Jahre alt und hatte mit einem Besenstiel die Wandkeramiken abgeräumt. Namensteller und Becher. Eliminiert. Mein Becher wurde später durch einen namenlosen ersetzt.
Das andere Mal hab ich den Fernseher meines Freundes zur Abholung unter das Fenster „gestellt“. Das war irgendwie auch cool und das Geräusch der Implosion adäquat.
Als ich nun aus dem Fenster sah, entdeckte ich ein weißes Rechteck im Gebüsch, ging runter und suchte nach dem Buch. Es war nur der Schutzumschlag, der sich im Flug abgelöst hatte. Wie sollte ich es wiederfinden? Ich kannte ja nicht mal die Farbe des Deckels. Zurück in meiner Wohnung ließ sich auch auf der Webseite von Suhrkamp dazu nichts erfahren.
Ich nahm ein gut sichtbares weißes Buch, erinnerte mich an meine Gefühle, warf es unter Beobachtung der Flugbahn durch das Fenster, ging hinunter und fand das erste Buch wieder. Zerknautscht und dreckig lag es da.
Erleichtert schob ich es durch die Gitterwand meines feuchten Kellers auf den Boden neben die Tüte mit den „Fabergé“-Eierwärmern und den „Brillant“-Handtaschenhaken für Tresenkanten (jeweils Pärchen). Noch so eine Geschichte.
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