berliner szenen: Tram mit neuen Fenstern
Fahrt im Sarg
Die BVG ist immer für Überraschungen gut. Meist sind es die steigenden Preise, die einen staunen lassen. Doch dieses Mal hat sich das Unternehmen selbst übertroffen. Denn die BVG fährt per neuer Straßenbahn in die Zukunft und nimmt uns dabei mit. Zum Beispiel auf Linie 20 und – welch Omen! – 13.
Die Wagen sehen merkwürdig aus. Obwohl gelb wie immer und auch sonst nicht anders konstruiert als moderne Vorläufer, fallen die abgedunkelten Scheiben sofort ins Auge. Eine passende Metapher, ist es doch vor allem die visuelle Wahrnehmung, der dank BVG ungewohnte Erlebniswelten erschlossen werden. Die Fenster der angeblich klimatisierten Niederflurbahn (die Türen gehen doch sowieso ständig auf und zu?) sind abgetönt, was wahrscheinlich gegen allzu grelle Sonnenstrahlen schützen soll. Doch der Effekt ist ein seltsamer und reicht bei sensiblen Seelen für kalte Schauer auf der Haut. Das Bahninnere ist von außen nicht mehr einzusehen. Ein gelb-schwarzer Lindwurm zieht sich durch die Stadt. Erst wenn sie vor einem hält, hat man Durchblick, doch der ist alles andere als angenehm. Die Passagiere sehen allesamt fahl, grau-bläulich, ja leichenblass aus. Nachts ist der „Effekt“ noch drastischer.
Sitzt man drinnen, ist der Blick nach draußen genauso schlimm: Berlin trägt einen hässlichen Grauschleier. Alle Farben stimmen nicht mehr. Menschen, Hunde, Häuser, Autos wirken wie aus einer anderen, einer kühlen, einer toten Welt. Unschöne Gefühle stellen sich ein, denn die Fahrt mit der neuen Straßenbahn gleicht einer Reise mit einem fahrbaren Sarg. Solche Gedanken verschwinden erst nach wiederholten Fahrten mit der neuen Bahn, mit der laut Aufschrift die BVG in die Zukunft fahren will. ANDREAS HERGETH
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