berliner szenen: Gefährliche Jubelbiere
Strieder sei Dank
Vorgestern gegen acht war die Welt kurzzeitig eine wunderschöne. Gerade hatten wir lieben Besuch empfangen, strebten auf ein Bier in die Kneipe, da meldete sich eine Vertraute am Handy und sagte: „Sie haben Strieder nicht gewählt.“ Dann erklärte sie mir in aller Ruhe, was soeben im Berliner Abgeordnetenhaus vorgefallen war. Ein Moment der Schönheit. Freiheit leuchtete auf, das Lachen zauberte sich in die Gesichter. Biere wurden geordert. „Hat er’s schon verstanden?“, war einer der Witze, den wir auf Strieders Kosten machten, die Frage, ob Steffel es je verstehen würde, stand im Raum, und einer wagte dieThese, dass manch ein PDSler für Thälmann gestimmt habe, einfach so, aus Routine gewissermaßen. „Zu dumm zum Wählen“ wurde schließlich unser Motto.
Weitere Biere wurden bestellt und getrunken. Doch nachdem wir uns stellvertretend für die Titanic-Redaktion die „Rot-roten Strolche“ ausgedacht hatten, wurde uns mit einem Mal klar, was hier vorging. Die Koalition stand auf der Kippe. Hinter Stoibers Rücken lugte wieder einmal Steffel vor, Sexy-Rexrodt würde sich wieder als Mister Wirtschaft präsentieren, die Grünen ihre unsäglichen schwäbischen Wasch- und Saubermannsfantasien ausstellen, die SPD Langeweile verbreiten, die PDS Wortspiel-Brie zum Slogandichter küren. Uns wurde schlecht. Das Jubelbier wurde zum Trauerbier. Die knallroten Blamagen-Boys und die nicht minder dämliche Opposition wurden uns schlagartig bewusst. Und: Das Gespenst von Diepgen hing drohend überm Tisch. Andererseits konnten wir uns nicht vorstellen, das Strieder charakterlos genug wäre, sich ein zweites Mal zur Wahl zu stellen. Das war er dann aber doch, glücklicherweise.
JÖRG SUNDERMEIER
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