■ berlin spinnt: Bonner von der Leine lassen
Auch das wird man missen: Weil viele jede Minute des Endes miterleben wollten, waren sie pünktlich da. Das hatte kollektives Warten auf Einlaß zur Folge, bis jemand „Aufmachen!“ rief und ein anderer „Sonst stürmen wir!“ drohte. Das Tor öffnete sich tatsächlich. Ach, und dann Schlange stehen nach Kunst. Wartegemeinschaften haben einen schönen Nebeneffekt. Man lauscht den Gesprächen: „Wäre ja auch eine Zumutung, wenn der Kanzler auf das Zelt blicken müßte“, spöttelte ein Herr. „Wo das Schild dann wohl hängen wird?“ fragte besorgt eine Dame. „Bonner an der Leine führen“ steht darauf. Wehmut allerorten. „Weißt du noch“, ist oft zu hören. Und: „Wieder eine Institution futsch.“ Dabei ist eigentlich alles wie immer. Holzfeuer verbreiten Qualm, im kleinen Zelt (das große ist schon abgebaut) Vogelgezwitscher, es geht ewig nicht los, die Leute trinken, quatschen, hier und da riecht es nach einem Joint. Irgendwie scheinen sich alle zu kennen. Wie eine große Familie. Halb elf erklimmt Irene Moessinger die Bühne, macht es kurz, sagt etwas von einem „Abschied, der zu Herzen geht“ und spricht aber nicht von Ende, sondern von Wiedergeburt. Das freut alle, die Fangemeinde hofft auf das neue Tempodrom. Mit dem Geld des Bundes ist dieses so gut wie sicher, auch wenn alles ein bißchen lange dauern wird. Bald muß hier im Tiergarten alles besenrein übergeben werden. Deshalb stieg Samstag die ultimativ letzte Party im alten Tempodrom.
Die 30 jungen Musiker und Künstler von „Mahatoks Magnetic Circus of Now“ boten ein prima Zirkusspektakel. Besser hätte der fröhliche Abschied nicht zelebriert werden können, hatte sich doch das Tempodrom-Team stets der Förderung junger innovativer Künstler verschrieben. Und schon kletterte Artistin Esther ein Seil nach oben und schaukelte unter der Kuppel. Dazu sang Catalania. Dann griff sich Conférencier Jeff Caster das Mikro, erzählte die Geschichte eines blauen Pferdes, das keiner mochte, aber doch geliebt werden wollte. „Lustig“, sagte jemand, „Schröder wird es in Berlin ähnlich gehen.“ Die Band „Atman Projekt“ kam ziemlich archaisch daher. Freie Oberkörper, „Kriegsbemalung“, viele Trommeln, „Hejo“-Gesänge (oder so ähnlich). Zwischendurch erzählte der Moderator, wie ein Pfarrer gekleidet, von Wiedergeburt. Paßte ja zum Abend. Nur, was wollte uns der Clown sagen, der sich dabei ein paarmal mit dem Revolver ins Maul schoß? Wieder Musik, ein Feuerschlucker, dazu Klänge des „Tar Ensemble“ von Geige, Trommel und Santour, einem indischen Saiteninstrument. Auf der Schaukel turnten ein Mann und eine Frau ganz abenteuerlich. Alle sind begeistert. Lachen und Beifall. So ging das die halbe Nacht, bis in den frühen Morgen Jam-Session. „Schade, daß alles vorbei ist“, sagt eine Dame leise. Draußen lief die letzte Party derweil ganz nüchtern ab. Im Wohnwagen saßen Luzi Ferase und Stefan Vens und tippten. Sie sammelten Informationen („Beschreibe dich mal“ etc.), um daraus eine „Bewegungsmeldung“ zu erstellen. In ein paar Monaten werden diesen Job wohl BGS-Beamte übernehmen. Andreas Hergeth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen