berlin buch boom: Nicht eben das klassische Erinnerungsbuch: Sabine Fabers Geschichtensammlung „Mein Affe ‚La Vie‘ “
In Giovannis Welt
Kinder erleben die Welt. Da ist zum Beispiel eine Schrebergartensiedlung, die aufgegeben wird, weil diese Fläche bebaut werden soll. Ein idealer Spielplatz. Die beiden Teenie-Schwestern Gabi und Sabine tollen dort herum, schleichen durch die leer stehenden Häuschen und Geräteschuppen, finden zerbrochenes Geschirr und unbrauchbare Stühle und erschrecken jedes Mal fürchterlich, wenn auf dem Nachbargrundstück eine Katze randaliert.
Dann finden sie in einem ehemaligen Garten wild wachsende Petersilie in rauen Mengen. Flugs wird diese zu Sträußen gebunden und am Straßenrand verkauft. Die vorbeiziehenden Hausfrauen kaufen gern, denn die Gören verkaufen ihr Kraut billig. Bald sind über sieben Mark zusammen. Davon kaufen wir Schleckersachen und der Mutti was zum Geburtstag. Ein großes Erlebnis für Kinder, ein regelrechtes Abenteuer.
Sabine Faber, Jahrgang 1955, ist in Westberlin geboren und aufgewachsen, hat Sozialpädagogik studiert und zugleich als Taxifahrerin gearbeitet. 1996 hat sie Berlin verlassen und ist in die Niederlande gezogen. Seither kann sie erst recht über Berlin schreiben. Und grundsätzlich schreibt sie autobiografische Geschichten. Im vorletzten Jahr erschien „Ach, ne Dame“, ihr Rückblick auf ihre Taxifahrerzeit.
Nun ist „Mein Affe ‚La Vie‘ und andere Geschichten“ erschienen, ein Geschichtenbuch, dessen Texte allerdings kaum für sich allein stehen können. Erst wenn man alle Geschichten liest, ergibt sich ein Gesamtbild und macht das Buch Sinn. „Mein Affe ‚La Vie‘ “ ist nicht eben das klassische Erinnerungsbuch wie Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Michael Degens „Nicht alle waren Mörder“ oder Norbert Johannimlohs „Appelbaumchaussee“ – denn Sabine Faber hat eigentlich gar nichts zu erzählen. Sie war nie ernsthaft bedroht, befand sich nicht in einem Konflikt mit der katholischen Kirche, war nicht lebensbedrohlich krank, erlebte Sexualität nicht als Sünde, hatte keine schlechten Eltern, war nicht Vollwaise und musste nichts stehlen.
Was sie erzählt, ist nicht mehr als die Anekdoten, die Eltern spätabends ihren inzwischen erwachsenen Kindern erzählen. Die handeln in der Regel davon, dass jemand etwas nicht anziehen wollte oder der kleinste Bruder zu hoch auf einen Baum geklettert war; dass jemand ein paar Pfennig klaute, dass man einmal zum Hermannplatz gefahren ist oder eben dass die Kinder fleißig Petersilie gepflückt haben.
Diese Geschichtensammlung ist also eher ein Nichtbuch, und Sabine Faber scheint das bemerkt zu haben, denn gegen Ende der Geschichtensammlung versucht sie etwas sehr verzweifelt, ein Geheimnis zu beschwören, die Geschichten mit einer Aussage zu überformen und sich mit Hilfe von Wichtelgeschichten und sprechenden Stoffaffen ihre kindliche Unschuld zu bewahren. Doch der überwiegende Teil ihrer Geschichten ist tatsächlich unschuldig, ja, Faber weiß kaum mit Worten umzugehen und produziert viele schiefe Bilder. Gerade deshalb ist das Buch ausdrücklich zu loben. Denn wenn Faber auch nicht viel zu erzählen hat, so hat sie doch jede ihre Geschichten selbst erlebt. Die Rechtfertigung des Buchs besteht gewissermaßen darin, dass sie schreibt, was nicht wirklich aufzuschreiben lohnt. Weil sie nicht bemüht schreibt, sondern im Postkartenstil, ist der Text denn auch nicht verkrampft und schämt sich für nichts, sondern ist beinahe niedlich.
Man freut sich oft über Buntstiftbilder von Kindern, weil sie einen ganz kitschig an die eigene Kindheit erinnern. In diesem Sinne freut man sich auch über Sabine Fabers Geschichten.
JÖRG SUNDERMEIER
Sabine Faber: „Mein Affe ‚La Vie‘ und andere Geschichten“. Schardt Verlag, Oldenburg 2000, 124 S., 24,80 DM
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