berlin buch boom: Zum 10. Geburtstag der Bar Jeder Vernunft ist eine Text/Foto-Hommage auf das Gender-Kabarett erschienen
Der Quatsch der alten Tage
Zeitungshymnen, Liebeserklärungen und die TV-Übertragung der Geburtstagsgala sprechen für den Erfolg des Unternehmens im kulturellen Zonenrandgebiet von Berlin-Wilmersdorf. Nun erscheint zum zehnten Geburtstag der Bar Jeder Vernunft eine Chronik mit Beiträgen von Künstlern wie Meret Becker, Georgette Dee, Maren Kroymann, Gayle Tufts oder Cora Frost, deren Karrieren hier ihren Anfang nahmen oder wesentlich geprägt wurden. Das Vorwort stammt von Bar-Fan Alfred Biolek, der auch die Geburtstagsgala moderierte, dazu ein Querschnitt durch zehn Jahre Bar-Programm.
Beim Blättern passieren mit Hilfe von David Baltzers Schwarzweißfotografien diverse Highlights noch einmal Revue: die Geschwister Pfister und ihr „Im Weißen Rössl am Wolfgangssee“, Comedian-Harmonists-Wiedergänger „Hudson Shad“ oder „Drei alte Schachteln in der Bar“, von denen heute nur noch Brigitte Mira lebt. Ute Büsing hat Geschichte und Vorgeschichte der Kleinkunstbühne nacherzählt, der Blick gelegentlich von Tränen der Rührung getrübt über so viel Künstlerromantik, Begeisterungsfähigkeit und Idealismus der Initiatoren Lutz Deisinger und Holger Klotzbach – alles in allem eine schöne Festschrift für eine durch und durch sympathische Einrichtung. In einem Kapitel, das den „Entstehungszusammenhang“ der Bar beleuchtet, schlägt Ute Büsing dann den großen Bogen durch die Westberliner Subkultur der 80er-Jahre: die Geburt der Bar Jeder Vernunft aus dem Geist der Hausbesetzer, Spontis und taz-Gründer, der schwulen und linken Kleinkunstszene.
Ein bisschen liest sich das wie eine alte Germanistikvorlesung in der DDR, wo sämtliche geistesgeschichtlichen Strömungen stets zwingend in der Gründung der DDR münden mussten. Ebenso zwingend münden bei Büsing die anarcho-kabarettistischen Strömungen samt Genderdebatten in die Gründung der Bar Jeder Vernunft: Sie hat Subkultur für ein bürgerliches Publikum salonfähig gemacht, vor allem schwule Subkultur. Vielleicht ist ihr Erfolg auch nur der Beweis, dass Subkultur längst Mainstream ist, dass von ihrem Potenzial auch die Showprogramme des Fernsehens profitieren.
Das Programm der Bar konnte nur deshalb so erfolgreich werden, weil Klotzbach und Deisinger die Balance zwischen Comedy, Konsens und Bürgergeschmack gehalten haben. Noch die schärfsten Nummern taten keinem weh, entschärften sich im Plüsch des Schauplatzes wie von selbst. Manchmal, wenn etwa die deftige Gayle Tufts mal wieder an der Geschmacksgrenze entlangschrammte, wirkte die Bar Jeder Vernunft fast wie die Zweigstelle des Sat.1/RTL-Comedybooms in der Hochkultur. No Sophistication, sondern Brachialhumor.
Am Schluss der Hinweis auf eine ältere Schwester des Unternehmens, das bezeichnenderweise im Rückblick gar nicht vorkommt. Die „Bar Jeder Erotik“ nämlich, die von Mahide Lein zwischen 1986 und 1990 im „Pelze-Laden“ auf der Potsdamer Straße veranstaltet wurde. Als erster lesbischer Darkroom Europas – nicht nur für Körper, sondern auch für Diskurse, Performance, Kunst und Musik. ESTHER SLEVOGT
Ute Büsing/David Baltzer: „Bar Jeder Vernunft. Die Kunst der Unterhaltung“. Eichborn-Verlag, Berlin 2002, 176 Seiten, 24,90 Euro
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