berlin buch boom: Christopher Görlichs „68er in Berlin“
Auf Historienfahrt
Redeverbot – der Schriftsteller Erich Kuby durfte nicht an der FU sprechen. Bereits zweimal vorher hatte das Rektorat eine Rede von Kuby verboten, da dieser 1958 erklärt hatte, dass im Namen „Freie Universität“ ein „äußerstes Maß an Unfreiheit“ zum Ausdruck komme und „frei“ sich ausdrücklich nur auf die Ostberliner Humboldt-Universität beziehe, nicht aber auf die Freiheit an sich. Als also der Rektor Herbert Lüers zum dritten Mal eine Rede Kubys an der FU untersagte, verhielt er sich wie seine Vorgänger im Amt. Doch diesmal – es ging um eine Rede zum 20. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht – ließen sich die Studenten nicht einschüchtern.
Im Gegenteil – zunächst demonstrierten rund 400 Studenten auf dem Campus der FU, und der AStA unter Wolfgang Lefèvre vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund fasste das Verdikt als einen Zensurversuch auf. Die Veranstaltung konnte zwar am 7. Mai 1965 im Studentenhaus der Technischen Universität am Steinplatz stattfinden, doch die Gemüter beruhigten sich nicht mehr – in den folgenden Tagen demonstrierten bis zu 3.000 Studierende. In der Woche nach dem 11. Mai 1965 wachten einige Studierende Tag und Nacht vor dem Rektorat, und am 17. Mai schließlich streikten Studierende des Otto-Suhr-Institutes.
Ereignisse wie diese führten zu einer neuen, bis dahin in Deutschland nicht gekannten studentischen Politisierung. Es kamen die Kommune 1 und Kunzelmann, Fritz Teufel ernannte sich zum Direktor der FU, Rainer Langhans gab mit Uschi Obermeier den Revolutionär in Liebe, und Dutschke wurde von einem fanatischen Bild-Leser niedergeschossen.
Das alles beschreibt Christopher Görlich in seinem Buch „Die 68er in Berlin“. Dieses hätte nur eines von vielen Büchern sein können, die helfen, die 68er-Bewegung zu er- oder verklären, wäre es nicht aufgemacht wie ein Stadtführer. Es folgt keinem chronologischen Aufbau, sondern führt zur FU, zum Amerikahaus über den Steinplatz zur Deutschen Oper, dann zu den historischen Orten am Kurfürstendamm, Stuttgarter Platz und Tegeler Weg. Es macht kurz am Schöneberger Rathaus halt und endet schließlich vorm Springer-Hochhaus in Kreuzberg.
Damit kann man sich auf eine schöne 68er-Historienfahrt durch Berlin machen. Obschon das Buch mit hoher Anteilnahme geschrieben ist, recht offen mit den 68ern sympathisiert und sich allzu vorschnell und verständnislos von den Parteibildungen und militanten Aktionen der Siebzigerjahre distanziert, dürfte der Autor wissen, dass er so den 68er-Aufbruch mitsamt seinen Folgen für abgeschlossen erklärt. Der Ausblick, mit dem das Buch endet, will über die Zukunft reden, und ist doch nur ein Fazit. Görlich beweist gegen seinen Willen, dass die 68er keine Rolle mehr für die Berliner Republik spielen. JÖRG SUNDERMEIER
Christopher Görlich: „Die 68er in Berlin“, Kai Homilius Verlag, Berlin 2002, 376 S., 18 €
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