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bascha mika über LeidenschaftenGeliebte Gästeplage im häuslichen Kreis

Alle durften eintreten, alle waren willkommen. Nur den Kindern der Großfamilie reichte es irgendwann

Es gibt eine Gegend im Osten, weit östlicher als die ehemalige DDR, da frönt man einer stillen Leidenschaft. Man liebt Gäste. Gebetene und ungebetene. Wer ins Haus schneit, wird aufgenommen, bewirtet und versorgt.

Der Sozialismus, der jahrzehntelang in diesem Land herrschte, beförderte den Hang zum häuslichen Kreis. Draußen war das System mit seinem totalitären Anspruch und seinen Übergriffen auf das Private. Drinnen war das Eigentliche, wo man es sich gemütlich machte und genoss, sich gemeinsam der Kontrolle zu entziehen.

Wer in dieser Gegend aufgewachsen ist, der kann gar nicht anders, als diese Gewohnheit mitzunehmen, egal wo er im Leben landet. Wahrscheinlich steckt auch die zählebige Tradition von Großfamilien dahinter, bei denen es nicht auffällt, ob ein Esser mehr oder weniger am Tisch sitzt, weil sowieso immer doppelt so viel gekocht wie gegessen wird.

Ein schönes Beispiel für diese leise Leidenschaft, sich seinen Lebensraum zusammenzubasteln, bietet eine mir bekannte Familie, die bereits vor Jahren weit in den Westen zog. Während rundherum die Haushalte immer kleiner wurden, wurde diese Familie immer größer und konnte bald ein knappes halbes Dutzend Kinder vorweisen. Nicht alle unbedingt erwünscht, doch Verhütungsmittel gab es kaum. Also kamen die Kinder ein bisschen wie ungebetene Gäste, die sich wohl fühlen und bleiben.

In der neuen Nachbarschaft hingegen war Gastfreundschaft eher fremd. Besuch machte misstrauisch. Man fand gar nichts dabei, einen Bekannten, der an der Tür klingelte, gleich im Hausflur abzufertigen. Die eigene Wohnung war sakrosankt, und andere Leute machen ja immer auch Dreck. Kein Wunder, dass deren Kinder aus diesen sterilen Verhältnissen flohen und irgendwo anders Asyl suchten. Und zwar dort, wo bereits viele Kinder waren, denn wo viele sind, kommen immer noch mehr dazu.

Bei der Ostfamilie wurde nach der Devise gelebt: Bleibt lieber zu Haus und bringt eure Freunde mit, als dass ihr euch irgendwo rumtreibt. Denn zu Hause war die Bande wenigstens unter Kontrolle. So waren es denn manchmal ein Dutzend Kinder, die das Haus bevölkerten. Sie kamen, sobald sie ihren Müttern entwischen konnten, und nisteten sich in der Ersatzfamilie ein. Hier gab es zwar auch einen Vater, der gefürchtet wurde, vielleicht sogar mehr als der eigene daheim, aber das nahmen die Kinder hin. Fast eine Idylle.

Na ja, fast eben nur. Solange die Kindermischpoke klein war, ging’s noch. Doch als die Jüngsten in die Pubertät kamen und die Älteren sich schon richtig erwachsen fühlten, brach offener Krieg aus zwischen den Geschwistern. Alle paar Minuten stand ein anderer 13- oder 14-Jähriger vor der Tür, grinste blöd und begehrte Einlass. Kaum beieinander, machten die „Gäste“ weder Halt vor dem Kühlschrank noch vor irgendeiner Ecke des Hauses außer dem Schlafzimmer der Eltern. Die ertrugen den täglichen Rummel erstaunlich gelassen. Die älteren Geschwister nicht. In leidenschaftlichem Abwehrkampf verteidigten sie ihr Zimmer, ihren Besitz, ihr Zuhause, das täglich überfallartig okkupiert wurde. Sie wollten kein offenes Haus mehr, sie hassten die jüngere Brut und sehnten sich fast nach den spießigen Familienverhältnissen ihrer Freunde.

Inzwischen sind alle Beteiligten erwachsen und die gastgebenden Eltern ein ganzes Stück älter. Keines der Kinder wohnt mehr im Haus, dafür dürfen die Freunde von früher unterschlüpfen, wenn sie nach ihrer Scheidung zeitweise auf der Straße stehen. Und wenn es unerwartet an der Haustür klingelt, ist es sicher einer der Asylsuchenden von damals, den ein bisschen Sehnsucht nach der verschwimmenden Grenze zwischen Gast und Familie treibt.

Fragen zu Leidenschaften? kolumne@taz.de

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