auslandsjournal: Ganz Thailand begeistert sich an der Euro 2000
Schlaflos in Bangkok
Eine eigentümliche Stille herrscht in diesen Tagen in Schulklassen, Amtsstuben und Geschäften der thailändischen Hauptstadt – bis tief in den Vormittag hinein. Gähnend und mit verquollenen Augen wandern die Bewohner durch die Straßen. Erst am späten Abend regen sich die Geister wieder. Was ist der Grund für die kollektive Schlaflosigkeit, die das Land in diesen Tagen erfasst hat? „Eurofieber!“ Seit Tagen kleben viele Thailänder allnächtlich vor dem Fernseher – zu Hause, bei den Nachbarn, in Kneipen und Bars oder vor den Bildschirmen in den Auslagen der Geschäfte.
Weil auch die fünfstündige Zeitverschiebung die fußballbegeisterten Asiaten keineswegs daran hindert, möglichst jedes Spiel zu verfolgen, bleiben Restaurants bis in die frühen Morgenstunden geöffnet. Seit Wochen sind die Zeitungen voller Euro-2000-Werbung, in der die Hotels und Gaststätten mit speziellen Meisterschafts-Gerichten zu besonderen Wettkampf-Preisen lockten. Mancherorts tragen Kellner oder Bardamen sogar Fußball-T-Shirts.
Und so tönt es nun nächtlich – je nachdem – betrübt oder jubelnd aus den Fenstern der Wohnhäuser, egal ob die Holländer gegen die Tschechen oder die Engländer gegen die Deutschen antreten. Der Bangkoker Fernsehkanal Nummer drei zeigt jedes einzelne Spiel, und die einheimischen Kommentatoren sprechen selbst die merkwürdigsten europäischen Spieler- und Vereinsnamen wunderschön aus.
Um der „Massenhysterie“ (Bangkok Post) angemessen zu begegnen, ließ sich Bildungsminister Somsak Prisananantakul etwas ganz Besonderes einfallen: Seine Behörde druckte große Mengen an Euro-2000-Broschüren, die in den Schulen verteilt werden sollten. Darin ist nicht nur zu lesen, wer wann gegen wen spielt. Sondern darin gibt es auch eine Anleitung, wie man richtig guckt, ohne zu viel Schlaf zu verlieren.
Erste unrepräsentative Umfragen lassen die Wirksamkeit dieses Heftchens allerdings bezweifeln. Die Lehrer wurden noch einmal ermahnt, nicht Krankheit vorzuschieben, um den Unterricht zu schwänzen. Kinder sollen keine Ausrede erfinden, um ihre Verspätung zu rechtfertigen. Die Schulen könnten, so der offizielle Rat, die Spiele per Video aufzeichnen und in der Mittagspause zeigen.
Nützlich ist die Broschüre dennoch: Als Wettvorlage. Denn größer noch als die Liebe zum Fußball ist in Thailand die Sucht nach dem Glücksspiel – die nur noch dadurch verstärkt wird, dass solche informellen Wetten offiziell verboten werden. Schon Kinder setzen bei jedem Match riesige Summen – und so ist es kein Wunder, dass die Aufregung vor den Fernsehbildschirmen auch bei Begegnungen der unbedeutendsten Teams groß bleibt.
Anders als die Europäer prügeln sich die Zuschauer hier aber nicht. Während die Fernsehbilder von den Straßen Belgiens grölende Hooligans und dräuende Kampfpolizisten zeigen, kommentierte die Bangkoker Nation fröhlich: „Wir können stolz darauf sein, dass Thailand einer der sichersten Orte ist, um Eurofieber zu bekommen – wenn man einmal daran denkt, dass es bei uns völlig ohne die Gewalt abgeht, mit der das Spiel inzwischen in anderen Teilen der Welt verbunden ist. Hier ist der Fußball einfach nur eine andere Art, Spaß zu haben“. JUTTA LIETSCH
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