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Zwischen Helfen und Hassen

Opfer der Flutkatastrophe in Algier verdächtigen die Regierung, zögerlich geholfen zu haben, weil die betroffenen Viertel islamistische Hochburgen sind

aus Algier REINER WANDLER

„Niemand kümmert sich um uns“, beschwert sich Taleb. Der 36-jährige Familienvater hat alles verloren. Der Schlamm steht zwei Meter hoch in seiner Wohnung in der Rue Rachid Kouache in Bab el-Oued, dem ärmsten Stadtteil im Zentrum Algiers. Möbel, Fernseher, Kücheneinrichtung – die Fluten haben alles begraben. Ob die Wohnung je renoviert werden kann, weiß heute niemand zu sagen.

Seitdem am 10. November das Unwetter über Algier hereinbrach, wohnen Taleb, Frau und Kind zusammen mit 16 weiteren Familien in der benachbarten Grundschule, die sie kurzerhand besetzt haben. In jedem Klassenzimmer haben sich zwei bis drei Familien einquartiert. Auch das Erdgeschoss des Gebäudes aus den 60er-Jahren ist im Schlamm versunken. Auf dem Treppenabsatz putzt eine Frau einen Kühlschrank aus, den sie vor den Fluten retten konnte. Nur Strom, um ihn zu betreiben, gibt es nicht. Die Elektrizitätsversorgung, das Trinkwassernetz und die Telefonleitungen sind unterbrochen. Die Klos im Schulgebäude funktionieren nicht mehr, es stinkt. „Wir haben Angst, dass hier Seuchen ausbrechen“, sagt Taleb, von Beruf Krankenhausangestellter: „Wären da nicht die Pfadfinder und vor allem die Stadtteilmoschee, hätten wir auch heute, über eine Woche nach den Überschwemmungen, nichts zu Essen und keine Decken.“

Sintflut – Apokalypse – jede Beschreibung verkommt in den Mündern der Überlebenden zu hilflos gestammelten Worten. „Es regnete den ganzen Tag ziemlich stark“, erinnert sich Taleb an den Unglückstag. „Plötzlich, am späten Vormittag, kam die Welle. Drei, vier Meter Wasser und Schlamm.“ Taleb konnte sich mit Frau und Kind aus der Erdgeschosswohnung gerade noch auf die Dachterrasse retten. Nicht alle hatten so viel Glück. Ein paar Häuser weiter unten rissen die Fluten den 28-jährigen Sohn eines Bekannten mit.

Tausende Tonnen Schlamm und Geröll begruben einen Marktplatz unter sich. Dann strömten die Fluten in die engen steilen Straßen Bab el-Oueds. Am oberen Ende des Stadtteils füllten sie die Erdgeschosse mit Schlamm, weiter unten erreichte die Welle auch den ersten Stock. Einige kleine Häuser stürzten vollständig ein. Die Wohnblocks aus der Zeit, als Algerien noch französische Kolonie war, hielten den Fluten gerade noch Stand. Keller und Erdgeschosse versanken.

Der Bruder kam nie zurück

Unten an der Uferpromenade dann drückte der Strom die Mauer ein und ergoss sich ins Meer. Auf seinem Weg überzog das Wasser alles mit einer mehrere Meter dicken Schicht aus Erde, Sand und Gestein. Kleider, Schuhe, Möbel, Spielzeug, Pkw-Teile ragen aus dem Schlick. „Das Wasser riss alles mit sich“, erinnert sich Taleb: Autos, die aussahen als seien sie soeben aus der Schrottpresse gekommen, entwurzelte Bäume, abgerissene Straßenlaternen und Leitplanken und ertrinkende Menschen – immer wieder Menschen.

Das Wasser kam von oben aus den Hügeln. Der Regen hatte dort die Stadtautobahn in einen reißenden Fluss verwandelt. Links und rechts rutschten die Berghänge ins Tal und mit ihnen ein Teil der Elendshütten am Rande der Stadt und ihre Bewohner. „Ich habe meinen Bruder Nabil verloren“, sagt Mohamed, einer der Anwohner, mit gedämpfter Stimme. Nabil war bei der Arbeit auf der Baustelle. Als der Regen immer schlimmer wurde, sagte er dem Vorarbeiter, er würde nach Hause fahren, um nach seiner Familie zu schauen. „Hier kam er nie an“, erzählt Mohamed. Der vierjährige Junge auf dem Arm des ärmlich gekleideten Mannes hört die ganze Zeit nicht auf zu heulen. Es ist der Sohn des verschwundenen Nabils.

Auf Entschädigung können sie wohl kaum hoffen. „Wir haben alle illegal gebaut. Papiere hat hier keiner“, meint Druckereifacharbeiter Adjiri, der seine jetzt zerstörte Behausung erst vor zwei Jahren gebaut hat. Auch hier ist noch keine staatliche Hilfe angekommen.

„Drei Tage hat die Regierung gebraucht, bis sie sich überhaupt mal blicken ließ“, schimpft Taleb. Als dann Präsident Abdelasis Bouteflika höchstpersönlich kam, machten die Jugendlichen, die seit dem Unglück mit bloßen Händen nach Verschütteten suchen, ihrer Wut mit Steinen Luft. Taleb ist sich sicher, dass alles so schleppend geht, weil Bab el-Oued und die anliegenden Siedlungen Algiers islamistische Hochburgen sind. „Wir sind hier Menschen dritter Klasse.“

Auch Taleb hat 1991 die heute verbotene Islamische Heilsfront (FIS) gewählt. Damals zeichnete sich ein Sieg der FIS ab, doch die Regierung annullierte die Wahlen. Seither kämpfen Islamisten und das algerische Militär. Bisher starben in dem Konflikt mindestens 100.000 Menschen, und erst am Dienstag explodierte im Busbahnhof von Algier wieder eine Bombe, mindestens 30 Menschen wurden verletzt.

Im Armenviertel Bab el-Oued verfügen die Islamisten noch immer über ein gut funktionierendes soziales Netz. „Die Gläubigen bringen Spenden vorbei und wir geben sie weiter“, erklärt ein bärtiger Enddreißiger. Er hat sich neben der Eingangstür der Moschee Essouna niedergelassen. „Nein, hinter unseren Hilfslieferungen steckt keine Gruppe“, betont der Mann in olivgrüner Djellabah und blauem Anorak, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Wo bleibt die internationale Hilfe?“, fragt er dann. Die Gerüchte, nach denen bereits Hilfsgüter auf den Schwarzmarkt gelangt sind, wollen nicht abreißen.

Essouna ist nicht irgendeine Moschee. Hier predigte einst Ali Benhadj, Nummer zwei und radikalster Vertreter der FIS. Am letzten Freitag, dem ersten Wochenende nach der Überschwemmung und Auftakt des Fastenmonats Ramadan, waren in den Gebetshäusern erneut scharfe Töne zu hören. Das Unwetter sei die Strafe Gottes für das lasterhafte, verwestlichte Leben vieler Algerier, verkündete so mancher Imam von der Kanzel.

„Es gibt Leute, die sich die aktuelle Lage für ihre Sache zu Nutze machen wollen“, meint Dr. Til Matine. Der Arzt aus dem Ministerium für Solidarität koordiniert Hilfsprogramme für Bab el-Oued. „Wir hatten tatsächlich organisatorische Schwierigkeiten bei der Verteilung der Hilfsgüter“, gesteht er ein. Auch Korruption und lange Finger bei der Vergabe möchte er nicht ausschließen.

„Es fehlt nicht an Hilfsgütern, sondern an Organisation“, meint Dr. Matine. Doch langsam bekomme das Ministerium die Lage in den Griff: 500 Familien seien bereits in andere Wohnungen umgesiedelt worden. Weitere 110 leben in Sidi Fredj nahe der Stadt in Zelten auf einem Platz, der im Sommer Jugendcamps aufnimmt. Um Betrügereien zu verhindern, will das Ministerium die Zwischenlager für Hilfsgüter schließen und direkt an die Betroffenen liefern. Die Konvois genießen Polizeischutz.

Streit um Bergung der Leichen

Während die Hilfsprogramme schleppend anlaufen, zeichnet sich bereits ein weiterer Konflikt mit der Bevölkerung in Bab el-Oued ab. Aus Angst vor Seuchen sollen die Bergungsarbeiten bald abgebrochen werden. Die Rettungsmannschaften müssten schweren Maschinen weichen. Viele Leichen würden für immer verschwunden bleiben. Deshalb sind viele Familien gegen diese Maßnahme.

Bis die Entscheidung gefällt ist, graben Feuerwehren aus mehreren Ländern, Soldaten und Freiwillige Tag und Nacht mit Spaten und Pickel weiter. Ihre Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf die staatliche Tabakfabrik unweit von Talebs überschwemmter Wohnung. Die Außenwände sind vollständig eingedrückt. Die meterdicke Betonplatte, die der Fabrik als Dach und den Mietern zweier Wohnblocks als Hinterhof diente, ist an einer Ecke eingeknickt. Auf einem Mauerrest ist noch ein Graffiti zu erkennen: „Vive Ben Laden!“ steht neben einer palästinensischen Fahne.

Was die Feuerwehrmänner aus einem zwei Meter tiefen Loch im Schlamm zerren, hat mit einem menschlichen Körper nur noch wenig gemein. Müde, entsetzte Blicke zeichnen die Gesichter der umstehenden Rettungsleute. Einige wenden sich bestürzt ab. Andere drücken sich ein Tuch vor die Nase. Der Gestank ist kaum auszuhalten. Die Leiche wird auf die ebenfalls meterhoch mit Schlamm bedeckte Straße gezerrt. Opfer Nummer 676 auf der nicht enden wollenden Liste. Mindestens 150 weitere Menschen werden noch vermisst.

Ihre Angehörigen fahren Tag für Tag auf den Friedhof el-Alia im Osten der Stadt. Auf einer Stellwand neben der Leichenhalle werden die Fotos der entstellten Toten angeschlagen. Auf einer zweiten Wand kleben Vermisstenanzeigen der Familien: Name, Passbild und der Ort, wo sie sich am 10. November vermutlich aufhielten. Auch hier liegt Verwesungsgeruch in der Luft. Eine Frau glaubt, den Elektrogerätehändler aus ihrer Straße wiederzuerkennen. Ein anderer rätselt, ob auf einem anderen Foto sein Nachbar abgebildet ist. Ein alter weißhaariger Mann läuft unruhig auf und ab. „Ich suche meinen Enkel“, sagt er mit gedämpfter, aber fester Stimme. Dann irrt er weiter und stammelt unaufhörlich vor sich hin: „Wir haben immer noch Hoffnung. Wir haben immer noch Hoffnung . . .“

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