Zweiter Weltkrieg im jüdischen Palästina: Die Deutschen vor El Alamein
Der Historiker Dan Diner betrachtet den Zweiten Weltkrieg vom Jischuv, dem jüdischen Palästina, aus. Damit gelingt ein fulminanter Perspektivwechsel.
El Alamein bedeutete einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Die Truppen der faschistischen Achsenmächte waren in Nordafrika im Juli 1942 bis auf 110 Kilometer an Alexandria herangerückt. Im ägyptischen Alexandria lag zu dieser Zeit die britische Mittelmeerflotte. Die deutsch-italienische Panzerarmee Afrika unter ihrem Oberbefehlshaber Rommel musste gestoppt werden.
Ansonsten würden Alexandria, Kairo, der Suezkanal, die strategisch bedeutsamen (Öl-)Häfen der Levante sowie der Jischuv – das jüdische Palästina – in die Hände der Faschisten fallen. Durch den Suezkanal führten die Nachschublinien der Briten zum Indischen Ozean. In zwei großen Schlachten gelang es den Alliierten unter britischer Führung, die Achsenmächte abzuwehren. Ende 1942 war Rommels Afrikakorps geschlagen.
Der renommierte Historiker Dan Diner erinnert in seinem Buch „Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg, 1935–42“ (DVA, 2021) an solch entscheidende Momente, die für den weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs und die Rettung vieler Menschenleben von großer Bedeutung waren. Geschichte verläuft nicht linear, vieles erscheint im tragischen Sinne zufällig und willkürlich.
Diner rückt mit Empathie für die Bedrohten den Krieg im Krieg im Südosten des Mittelmeers heran. Mit geostrategischem Weitblick, nüchtern, aber nicht kalt, legt er dar, wie verschiedene Mächte aus unterschiedlichen Interessen miteinander ringen. Aus der Perspektive des jüdischen Palästinas kommt dem Handeln der Briten und des Empires dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Siege der Alliierten bei El Alamein kündigten wie die Schlacht von Stalingrad 1942/43 die Niederlage des Dritten Reichs an. Voraussetzung für alles, was ab 1945 geschehen durfte und musste.
Den Holocaust nach Nordafrika und Palästina bringen
Im Sommer 1942 stand SS-Obersturmbannführer Walther Rauff (1906–1984) mit einem Einsatzkommando für den nordafrikanischen Kriegsschauplatz bereit. Rauff hatte in Osteuropa die systematische Ermordung von Juden, Kommunisten, Sinti und Roma mittels mobiler Gaswagen erprobt. Nun sollte Rommels Armee folgen, um den Holocaust nach Nordafrika und Palästina zu bringen.
Dan Diner: „Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg – 1935 – 1942“. DVA, München 2021. Hardcover, 348 Seiten, 34 Euro
Dan Diner schildert, wie sich 1942 angesichts des deutschen Vormarschs Unruhe in Kairo ausbreitet. Und erst Recht im Jishuv, dem jüdischen Palästina. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg war Palästina auf Beschluss des Völkerbundes unter britische Verwaltung gekommen.
Das Britische Mandatsgebiet umfasste bis 1948 die heutigen Territorien von Israel, Jordanien, Westjordanland und Gazastreifen. Die Bevölkerung definierte sich mehrheitlich arabisch/muslimisch. Eine Zählung der Briten von 1922 kam auf 590.890 muslimische Menschen, 83.794 jüdische, 73.024 christliche und 7.028 drusische.
Antisemitismus und Pogrome in Osteuropa hatten bei den Juden in der Diaspora ab der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts zu einer verstärkten Migration nach Palästina geführten. Sie nahm in den 1920er Jahren und mit Machtergreifung der Nazis 1933 in Deutschland zu.
Briten in einer komplexen Situation
Zionisten erwarben Grund und Boden im „gelobten Land“. Dagegen agitierten islamisch-arabische Fundamentalisten, Aufstände brachen aus. Um es sich mit den arabisch-islamischen Fundamentalisten nicht zu verscherzen, beschränkte die britische Mandatsmacht die Einwanderung. 1939 bis 1945 sollten nur 75.000 jüdische Flüchtlinge nach Palästina kommen dürfen – trotz des Holocausts.
Die Briten befanden sich 1942 in einer komplexen Situation, wie Dan Diner schildert. Das Empire benötigte im Krieg gegen die Achsenmächte (Deutschland, Italien und Japan) die Ressourcen aus den Überseegebieten, vor allen aus Indien. Der aufkommende jüdisch-arabische Konflikt drohte durch islamistische Agitation auf andere Gebiete mit muslimischer Bevölkerung auszugreifen.
Die faschistische Propaganda war dabei keineswegs untätig. Die Nazis hatten sich längst der Dienste des Mufti von Jerusalem versichert. Mohammed Amin al-Hussein (1895–1974) war ein Faschist und überzeugter Judenhasser. Seine panarabisch-islamistische Rhetorik vergiftete den Diskurs in der islamischen Welt nachhaltig. Der Mufti organisierte internationale Konferenzen und rief zu Angriffen gegen Juden in der islamischen Welt auf. Auch im Irak zündelte er.
Nach dem Farhud, dem Pogrom an den Bagdader Juden 1941, zog er weiter nach Berlin. Hier lebte er bis Ende des Zweiten Weltkriegs, Adolf Hitler finanzierte seine Tätigkeiten. Doch viele Muslims in Palästina folgten ihm nicht. Diner berichtet, dass Araber ihren jüdischen Nachbarn in Palästina in den 1940ern anboten, deren Kinder als die ihren auszugeben oder zu verstecken, falls die Deutschen kämen.
Zugespitzte Lage im Mittelmeerraum
Das Britische Empire wankte und schwankte bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bedenklich. Es brauchte seine indischen Truppen, doch Schlachtrufe wie „Asien den Asiaten“ antikolonialer Nationalisten blieben nicht ungehört. So manch antiimperialistischer Befreiungsnationalist sollte auf Seiten des faschistischen Japans gegen die Briten kämpfen. 1939/40 hatte das faschistische Italien 250.000 Soldaten in Libyen zusammengezogen.
Nachdem die Deutsche Wehrmacht Frankreich im Juni 1940 besetzte – Vichy-Frankreich samt den verbliebenen Kolonialtruppen und der Flotte mit den Nazis kollaborierte –, spitzte sich die Lage für die Alliierten im Mittelmeerraum dramatisch zu. „Für eine ozeanische Macht wie Großbritannien,“ so formuliert es Diner, „kann ein solch leicht verschließbares Gewässer sich kurzerhand in ein gleichsam verlandetes, feindliches Terrain verwandeln.“
Vom Kaukasus sowie von Libyen her drängten die faschistischen Armeen in einer Zangenbewegung Richtung Naher Osten und Suezkanal. „In mehreren Ereignisschüben rückte der Krieg an Palästina heran,“ so Diner. Doch nach dem Angriff Japans auf Pearl Habor im Dezember 1941 wachte „der schlafende Riese“ USA endlich auf. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg gewannen die Alliierten allmählich die Oberhand.
Für viele kam es zu spät. Ab 1941/42 organisierten die Nazis den industriell betriebenen Völkermord an den europäischen Juden. Bis 1939 hatten die Nazibehörden Juden schikaniert und ausgeplündert, teils aber noch ausreisen lassen. Doch oft war das Problem, ein Visum eines Aufnahmelands vorweisen zu können. 1939 kam man kaum mehr heraus. Im Oktober 1941 verhängte die NS-Führung ein generelles Ausreiseverbot für Juden.
Zweite Schlacht von El Alamein
1940 hatten Bomber der Achsenmächte Ziele in Palästina, in Haifa und Tel Aviv/Jaffa, bombardiert. Im Sommer 1941 besetzte die Wehrmacht Griechenland und seine Inseln im Mittelmeer. Am 23.Juli 1944 trieben die Deutschen – man befand sich bereits an allen Fronten auf dem Rückzug – die Juden von Rhodos und Kos zusammen. Etwa 1.800 Menschen wurden nach Athen verschleppt und von dort am 3.August 1944 mit Viehwaggons per Bahn in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert.
In der Zweiten Schlacht von El Alamein kämpften aufseiten der Alliierten 195.000 Soldaten. Sie standen Ende Oktober 1942 einer faschistischen Armee von etwa 100.000 Mann gegenüber. Unter britischen Kommando kämpften Australier, Neuseeländer, Inder, Exilverbände der Griechen, Polen, Franzosen – und Juden und Araber des Palästina-Regiments.
In den nationalen Verbänden der Alliierten kämpften überdies viele Juden. Sofern man sie ließ, wie Diner am Beispiel der polnischen Anders-Armee ausführt: „Mehr als 90 Prozent der jüdischen Bewerber wurden aus vorgeblich ‚medizinischen‘ Gründen abgewiesen.“
Der Antisemitismus beschränkte sich nicht auf die Deutschen. „Ob Palästina das Land ihrer Wünsche gewesen war oder nicht, war wenig erheblich,“ so markiert Diner die Lage 1945. „Unter den gegebenen Umständen erwies es sich als die wesentlich sich anbietende Alternative.“
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