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Zwei Reden vom Ende

In Hamburg sprachen Eric Hobsbawm und François Furet über den Epochenbruch von 1989 und bilanzierten unser blutiges Jahrhundert  ■ Von Christian Semler

Ende der letzten Woche fand in Hamburg eine Debatte zweier weltweit geachteter Historiker statt, die um unser schreckliches Jahrhundert kreiste. Außergewöhnlich an ihr war, daß die beiden Kontrahenten sich gar nicht begegneten.

Der eine, Eric Hobsbawm, trug im „Philoturm“ der Hamburger Uni vor. Der andere, François Furet, las tags darauf im nahen Institut für Sozialforschung. Der jeweils Abwesende wurde kein einziges Mal genannt, mischte aber unsichtbar mit in der Debatte.

Für diese Art von Ausschließungsszenario hatten unvereinbare Publicity-Strategien gesorgt. Aber in ihm spiegelt sich auch das Fortleben der „Lager“-Mentalität. An der Uni die altlinken „Festhalter“, am „Mittelweg“, die entschlossenen „Abrechner“. Wie wenig diese Frontlinie den realen Verhältnissen, sprich der allgemeinen Ratlosigkeit, entspricht, zeigte nicht nur die Ähnlichkeit der Fragen auf beiden Foren, sondern auch die der Antworten.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden älteren Herren nichts miteinander gemein zu haben, außer, daß sie beide Mitglieder ihrer kommunistischen Parteien zu einem Zeitpunkt waren, als diese Eigenschaft noch mehr nach sich zog als den Dauerauftrag für den monatlichen Mitgliedsbeitrag. Eric Hobsbawm versteht sich immer noch als Marxist. Die Welt von heute, meinte er in Hamburg, hat ziemlich viel Ähnlichkeit mit der, die Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ porträtierten. Aber: Für ihn ist der Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Kommunismus nicht nur ein temporärer Rückschritt, sondern das endgültige Aus für den Sozialismus als Praxis. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine bessere Welt, genährt durch die Widersprüche des Kapitalismus, die sich nicht zusammen mit der sozialistischen Verheißung verabschiedet haben.

Für François Furet hingegen bedeutet die Implosion des Sowjetkommunismus die Befreiung von einer dunklen Leidenschaft, die viele der besten Geister dieses Jahrhunderts in die politische und moralische Katastrophe trieb. Jetzt, wo der demokratische Westen seinen Feind verloren hat, ist der Horizont offen – aber gleichzeitig ist er auch leer. „Was mich heute frappiert, ist das vollständige Fehlen politischer Visionen. In der Ökonomie, in der Warenwelt sind wir heute, wie Marx gesagt hätte, vollständig entfremdet.“ Ein beständiges, halb verschlucktes Lachen begleitet die Komödie des menschlichen Irrtums, die Furet vor seinem Publikum ausbreitet. Etwa wenn er darlegt, wie man Lenin ablehnen, aber Stalin gleichzeitig lieben konnte. Der Irrsinn dieses Jahrhunderts erschreckt Furet nicht nur, er amüsiert ihn.

Auch Eric Hobsbawm mangelt es nicht am Sinn fürs geschichtlich Paradoxe. Ein gelassener, in feinem Wiener Dialekt parlierender Gelehrter, der es mit Thukydides hält: Die besten Historiker sind die, die aus der Niederlage heraus schreiben. Was beide Historiker eint, ist das Gefühl dafür, wie die entsetzlichen Ereignisse unserer Zeit mit Komik und Absurdität untermischt sind.

Hobsbawm entwirft in seinem „Zeitalter der Extreme“ globale Sozialgeschichte. Für seine Hamburger Vorlesung wählte er vor allem die glänzenden Passagen aus dem „goldenen Zeitalter“ aus, die nachweisen, wie das Leben auf unserem Planeten nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig und unwiderruflich umgepflügt worden ist. In seiner produktivkraftorientierten Betrachtungsweise hat die Ideengeschichte nur einen begrenzten Stellenwert. Der Stalinismus als eine Art eigenständiger Formation blieb auch in der Hamburger Diskussion seltsam schemenhaft. War doch das Schicksal des russischen Oktobers für Hobsbawm schon besiegelt gewesen, als die Revolution im Westen ausblieb. „Die Bolschewiki“, resümierte er im „Philoturm“, „hätten besser daran getan, es mit dem Aufbau des Sozialismus in Rußland erst gar nicht zu versuchen.“ Wie es auch klüger gewesen wäre, die linken Sozialisten nach 1918 nicht von sich zu stoßen. Die Bolschewiki ohne Staatsmacht und ohne Kommunistische Internationale?

Furet fängt dort an, wo Hobsbawm aufhört. Er untersucht in seinem „Das Ende der Illusion“ das Schicksal der kommunistischen Idee in unserem Jahrhundert (und nicht „des Kommunismus“, wie es fälschlich in der Übersetzung heißt). Bei Licht besehen gibt er eine Mentalitätsgeschichte, ein Psychogramm der kommunistischen Intelligenz. Der Dreh seiner Arbeit besteht im Aufweisen der Immunitätsstrategien, mittels derer sich die Linke von der politischen Wirklichkeit abschotten konnte, kraft derer sie später einem „Antifaschismus“ anhing, der das Gulag-System ausblendete. Für Furet entstand die radikal linke Kritik an der Bourgeoisie im Schoß das Bürgertums. Sie wurzelt im Selbsthaß der Bourgeoisie, die das kollektive Glücksversprechen ihrer revolutionären Tage nicht einlösen konnte und wollte. Nach 1918 artikuliert sich dieser Haß, auf der Rechten wie auf der Linken, in der Ablehnung der liberalen Demokratie. Wie auch der Glaube an die gemeinsame antibürgerliche Revolution die äußerste Rechte mit der äußersten Linken vereint.

Kann das Naziregime mit dem sowjetischen gleichgesetzt werden? Hobsbawm hielt in der Hamburger Diskussion beide Herrschaftsformen für gleich verabscheuenswürdig, betonte aber die Unterschiede in Entstehung und Struktur. Noltes These vom wesentlich antibolschewistischen Charakter des Nationalsozialismus hielt er für unhaltbar. Furet plädierte für exakte Darstellungen der gegenseitigen historischen Bedingtheit von Faschismus und Bolschewismus. Er gewann Noltes „Genealogie“ einiges ab, bestand aber darauf, daß der Faschismus nicht (wie bei Nolte) deduktiv und kausal aus dem Bolschewismus abgeleitet werden könne. Er habe seine eigene, unabhängige Existenz.

In einer Einschätzung aber stimmten die beiden so unterschiedlichen Kontrahenten überein: Ohne den Ersten Weltkrieg, der, mit Furets Worten, „industriell, demokratisch und total war“, hätte das Jahrhundert der Extreme nicht seinen Siegeszug antreten können. Welche Ideen und Ziele konnten auf das Massaker antworten? Weder die Liberalen noch die Sozialdemokraten hatten etwas parat, was die Massen überzeugt hätte – wohl aber die Bolschewisten und die Faschisten. Auch Hobsbawm unterstreicht den tiefen Einschnitt, den die Jahre von 1914 bis 1918 bedeuteten. Aber über die historische Analyse hinaus war bei Hobsbawm die Erschütterung darüber spürbar, daß für sicher gehaltene zivilisatorische Standards in der allgemeinen Schlächterei zerrieben wurden; daß ab jetzt jede Bestialität möglich wurde und zu rechtfertigen war. „Kehren wir zurück zu der Aufklärung des 18. Jahrhunderts“, rief er halb aufmunternd, halb ironisch seinem Publikum zum Abschluß der Veranstaltung zu und erntete ebenso frenetischen wie konsequenzlosen Applaus.

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