piwik no script img

Zusammenwachsen im GroßkreisMan ist sich fern

Landrat Heiko Kärger vom Kreis Mecklenburgische Seenplatte hat eine Mammutaufgabe. Er muss dafür sorgen, dass der Kreis zu einer Einheit wird.

Im Landkreis sind große Distanzen zu überwinden. Bild: imago / BildFunkMV

DEMMIN/MALCHIN/STAVENHAGEN taz | Es ist noch früh an diesem kalten, klaren Morgen im Herbst, als Heiko Kärger sich wieder einmal eine Facette seines neuen Landkreises erschließt. Ringsum fällt fahles Licht über matschige Wiesen, weiter hinten zeichnen sich Schrebergärten ab. Heiko Kärger stapft auf den Eingang des Flachbaus vor ihm zu. „So“, sagt er, „dann wollen wir mal sehen.“

Kärger wird gleich bei einem Wettbewerb antreten, den es bereits seit 15 Jahren gibt, immer im Herbst, am Schießstand der Demminer Schützengilde: das Gästeschießen des Landkreises. Kärger ist zum ersten Mal dabei; Demmin ist erst vor gut einem Jahr seinem Verantwortungsbereich zugeteilt worden. Sonst ist es für den Landrat ein ganz normaler Tag. Sich sehen lassen, Grußworte sprechen, repräsentieren, das macht einen großen Teil seiner Arbeit aus, „etwa 30 bis 40 Prozent“, sagt er.

Kärger, CDU, ist ein unauffälliger Typ, 52 Jahre alt, mit randloser Brille. Er schiebt sich behutsam durch die Menge in dem Vereinsheim voran, auf dem Weg schüttelt er die Hände von Uniformierten, Schützen, Soldaten und Notärzten in roten Anzügen.

LANDKREIS XXL

Der Landkreis: Wie verändern demografischer Wandel und schmalere Budgets die Politik? Mecklenburg-Vorpommern hat 2011 als Lösung die Kreise neu geordnet. „Mecklenburgische Seenplatte“ ist seitdem mit 5.496 Quadratkilometern der größte Landkreis Deutschlands. Kritiker fürchten, dass die Größe Identifikation, kommunale Selbstverwaltung und ehrenamtliches Engagement, die Grundlagen demokratischen Handelns, unmöglich macht.

Die Serie: Die taz begleitet ein Jahr lang den Kreis auf seinem Weg.

Ursprünglich wurde das Gästeschießen erdacht, damit Menschen, die im Bereich Gefahrenabwehr arbeiten, einander kennenlernen. Inzwischen kommen auch Vertreter von Wirtschaft und Verwaltung dazu. Kontakte knüpfen, Nähe herstellen. Auf solche Dinge wird es ankommen, wenn der Umbruch gelingen soll, in dem die Region steckt. Alte Kreise haben aufgehört zu existieren, neue sind dafür entstanden.

Der Kreis Mecklenburgische Seenplatte erstreckt sich vom Norden der Uckermark bis fast an die Ostsee, und Kärger ist der oberste Beamte in diesem riesigen Reich. Es ist seither oft in Gegenden unterwegs, die er bislang kaum kannte. Für Termine, die er sonst immer wahrgenommen hat, fehlt dagegen die Zeit. Dann sagen die Leute: „Aber du bist doch früher immer gekommen.“ Kärger legt die Stirn in Falten. „Das ist das, was mir ein bisschen Leid tut.“

Nach und nach verteilt sich die Menge an Stationen des Parcours, Kleinkaliber, Armbrust, Pistole und Sturmgewehr. Kärger öffnet die Tür zu einer Halle und lässt sich an einem Holzbalken nieder. Er stopft gelbe Stöpsel in seine Ohren und legt die G36 an, die vor ihm aufgebockt ist. Ein Soldat im Tarnanzug erklärt ihm, wie man das Gewehr lädt. Durch das Fernrohr visiert er die Zielscheibe an der Rückwand an. „Sehen Sie den roten Punkt?“, fragt der Rekrut. Von hinten schreit jemand: „Waffe fertig, laden, Feuer frei!“ Der Landrat drückt ab.

Was im Kalender rot ist, ist voll

Zu Heiko Kärgers Aufgaben zählt nun auch, dafür zu sorgen, dass die Kreisgebietsreform in den Ämtern umgesetzt wird. Das bedeutet: Aus den Behörden von drei Kreisen und einer kreisfreien Stadt muss eine Einheit werden, sozusagen ein Superorganismus der regionalen Verwaltung. „Es läuft inzwischen schon viel besser“, sagt der Landrat. „Der helle Wahnsinn“, sagt ein Politiker aus der Region.

Wer begreifen will, was ein sperriges Wort wie „Kreisgebietsreform“ bedeutet, kann Landrat Kärger eine Weile dabei beobachten, wie er versucht, die Distanzen in seinem neuen Kreis zu überbrücken. Novemberregen klatscht gegen die Scheiben seines Geschäftswagens, seit dem Gästeschießen sind ein paar Wochen vergangen. Kärger rauscht im Fond der dunklen Limousine durch eine grüne Landschaft, vorbei an Feldern und Weiden.

Kärger, studierter Agraringenieur, ist in den Behörden groß geworden. Ein Mann der Verwaltung durch und durch, sagen seine Kollegen. Er zählte zu den Befürwortern der Neuordnung, „weil leider Gottes kein Weg daran vorbeiführte“. Derzeit leben in dem Kreis noch 270.000 Menschen. In 18 Jahren werden es 20 Prozent weniger sein. Zugleich tun sich in den öffentlichen Kassen riesige Löcher auf.

Bereits jetzt hat der neue Landkreis ein Defizit von 25 Millionen Euro. Die Gebietsreform musste sein, sagt er. Nur, wie sie ablief, das hat ihn geärgert. „Holterdiepolter“ sei die Region vor diese Mammutaufgabe gestellt worden. Niemand war vorbereitet. „Ich hätte nicht mit so vielen Problemen im Detail gerechnet“, sagt er. Vorher gab es alle Ämter an allen Standorten. Nun wird zusammengestrichen: Das Umweltamt zieht nach Waren, das Ordnungsamt nach Demmin.

Heiko Kärger war bis Ende 2011 Landrat des Kreises Mecklenburg-Strelitz, der im neuen Großkreis aufgegangen ist. „Der Verwaltungsaufwand ist sehr viel größer geworden“, sagt er. „Alleine für die Post brauche ich jetzt doppelt so lange.“ Er zieht ein iPad hervor und streicht über das Display, eine Tabelle erscheint. „So sieht meine Woche aus“, sagt Kärger, „was rot ist, ist voll.“ Fast der ganze Bildschirm glimmt rot. In den Feldern stehen Gespräche mit Fachdezernenten, Kreistagssitzungen, Arbeitsgruppen, am Abend Feste oder Konzerte.

Zu lange Anfahrtswege

Dann bremst sein Chauffeur. Es ist neun Uhr, der erste Termin des Tages beginnt in der Rettungswache in Malchin hoch im Norden des Kreises. Im Erdgeschoss sitzen knapp ein Dutzend Menschen an u-förmig aufgestellten Pulten, Ärzte, Sanitäter, Krankenhausgeschäftsführer.

Thomas Hanff, der ärztliche Leiter des Kreisrettungsdienstes, hat eingeladen. Er will Vorschläge machen, wie sich die Rettung von Frühchen besser organisiert lässt. Die Größe des Kreises, die langen Fahrtwege, können für Babys tödlich sein, wenn sie zu Hause zur Welt kommen. Hanff hat seine Gäste bewusst nach Malchin geholt, „damit man die Zeit mal spürt“.

Kärger sitzt still auf seinem Stuhl, die Wange in die Hand gestützt, und macht sich Notizen. Hanff erzählt von Babynotarztwagen, in denen Säuglinge optimal versorgt werden können. Es gibt eine Stiftung, die solche speziellen Fahrzeuge finanziert. Der Kreis könnte sich um einen davon bewerben. „Was würde uns das kosten?“, fragt Kärger. „Null“, sagt Hanff. „Dann kann ich diese Geschichte nur begrüßen“, sagt Kärger.

Bis zum nächsten Termin ist es nur noch knapp eine Stunde hin. Kärger ist ein ruhiger Mann, der in kurzen, sachlichen Sätzen spricht. Der Druck ist ihm nicht anzumerken. Er wirkt etwas distanziert, nicht abwesend, aber so, als gebe es eine Handbreit Sicherheitsabstand, zwischen ihm und der Welt. Die Art, wie er die Arme verschränkt oder Finger vor sich faltet, verstärkt den Eindruck.

Es gibt derzeit gleich mehrere dringende Fragen, auf die er eine Antwort finden muss. Wie lässt sich die gewaltige Lücke im Haushalt schließen? 111 Stellen in der Verwaltung hat Kärger bereits abgebaut. Das reicht noch nicht. Offen ist auch, wie der Schwund der Bevölkerung gebremst werden kann. Heiko Kärger blickt aus dem Fenster, draußen flattern Krähen über Rapsfeldern. Der zweifache Vater und vierfache Großvater lebt in Glocksin nahe Neubrandenburg. Es gefällt ihm in dieser Gegend. „Man ist doch in zwei Stunden in Berlin“, meint er, „das sage ich den jungen Leuten auch immer.“

Nach einer Weile biegt der Wagen auf den Hof der Pommerland Fleisch- und Wurstwaren GmbH in Stavenhagen. Geschäftsführer Hans-Joachim Bennke wartet bereits. Er bittet Kärger in den hohen Backsteinbau. „Wir sind sehr froh, dass Sie uns besuchen“, sagt er. Der Landrat schaut sich regionale Betriebe an, so oft es geht. „Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert“, sagt er, „funktioniert nichts.“

Bennke ist stolz auf seinen Betrieb; er hat ihn durch eine Insolvenz geführt und saniert. Nun wachsen die Umsätze. Nur Auszubildende sind immer schwerer zu finden. Kärger hört zu und nickt gelegentlich. Bennke erzählt, dass seine Wurst seit diesem Jahr keine Glutamate oder künstlichen Aromen mehr enthält. „Der ganze Scheißdreck ist raus.“ Hauben und Kittel liegen für den Besuch bereit.

Große Empfindlichkeiten

Bennke führt durch weiß geflieste Hallen, vorbei an Fließbändern, an denen Frauen dünne Schläuche mit Fleischbrät füllen. „Wir arbeiten überwiegend mit Naturdärmen“, sagt Bennke. „Und wo kauft man die?“, fragt Kärger. „In Georgsmarienhütte.“

Auf dem Rückweg lehnt sich Kärger in seinem Sitz zurück; der Chauffeur stampft aufs Gas. Noch immer ist der Umzug der Behörden nicht beendet, stehen jeden Tag Transporter vor den Büros der Verwaltungsstandorte.

Der logistische Aspekt des Umzugs ist eine Sache, der menschliche noch eine ganz andere. Manche Mitarbeiter haben jetzt einen stundenlangen Weg zur Arbeit, andere müssen sich in neue Sachgebiete einarbeiten. Unmut gibt es vor allem bei denen, die abgestiegen sind. Etwa den Landräten der früheren Kreise, die nun Kärgers Stellvertreter sind. „Das ist vermintes Gebiet“, heißt es aus dem Landratsamt. „Tja“, sagt Kärger, „was soll ich dazu sagen.“ Er gilt als Chef, der durchaus autoritär auftreten kann, aber bei Konflikten eher vermittelt. Er kann es nicht allen recht machen. „Es gibt irre Befindlichkeiten“, sagt ein politischer Kenner der Region, „eigentlich wundert es mich, dass der Mann noch schlafen kann.“

Die Sonne steht bereits tief, als Kärger in Neubrandenburg eintrifft. Das Landratsamt ist in einem Neubaukomplex untergebracht, der aussieht wie aus groben Stücken vernietet. Kärger lässt sich an seinem Schreibtisch nieder, vor ihm ein Turm aus Postmappen. Er greift einen Stift und murmelt: „Wenn die Zeit knapp ist, unterschreiben Sie teilweise blind.“ Dann fängt er an, den Stapel abzuarbeiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!