: „Zur Unterwerfung missbraucht“
Reinhard Hempelmann, Leiter der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, über die religiöse Dimension politischer Konflikte und Fundamentalismus, transzendente Autorität und die Chance auf Versöhnung
taz: Herr Hempelmann, haben alle Religionen eine dunkle Seite, sind sie gar prinzipiell zur Rechtfertigung von Gewalt prädestiniert?
Reinhard Hempelmann: Man darf Religionen nicht pauschal eine solche Schuld zuweisen. Aber es ist richtig, dass alle Religionen diese dunkle Seite haben. Zudem können sie eingesetzt werden zur Verschärfung von Konflikten und zur Legitimierung von zerstörerischer Gewalt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Geschichte des Christentums kennt zahlreiche Beispiele: etwa den Versuch, das „Reich Gottes“ in Münster zu verwirklichen. Das war im 16. Jahrhundert. Ein übersteigertes apokalyptisches Bewusstsein war der Grund dafür, diejenigen gewaltsam zu beseitigen, die nicht einem bestimmten Ideal der christlichen Lebensweise folgen wollten. Die Zerstörung des Gottesreiches war dann wiederum ein gewaltsamer Akt.
Das ist ein Beispiel aus der Geschichte: Wie sieht es mit heutigen Konflikten aus?
Handlungen palästinensischer Selbstmordattentäter werden auch religiös gerechtfertigt. Zwar hat der Terrorismus keine Religion, worauf viele Politiker hingewiesen haben. Der Anschlag vom 11. September geschah freilich in Berufung auf religiöse Überzeugungen.
Warum haben Religionen die Kraft, Konflikte zu verschärfen?
Religionen berufen sich auf eine transzendente Autorität, die über den Menschen hinaus geht. Sie weisen den Menschen damit eine bestimmte Stellung zu. Das kann missbraucht werden zur Unterwerfung des anderen. Patriarchalische Gesellschaftsstrukturen werden bis heute religiös legitimiert und erhalten.
Hat Religion die Nation oder die Ethnie als Begründung für politische Konflikte abgelöst?
Die religiöse Dimension ist bei politischen Konflikten in der Regel eine Dimension unter anderen. Die Religion kann bei ethnischen oder nationalen Konflikten verschärfend, aber auch friedensstiftend und freiheitsfördernd wirken. Religion, das zeigen die christlichen Kirchen Europas im 20. Jahrhundert, kann auch Gewalt minimieren und Versöhnung ermöglichen. Jesus von Nazareth hat Gewalt und Vergeltung grundsätzlich abgelehnt.
Wenn man sich jedoch die heutigen, religiös aufgeladenen Konflikte anschaut, etwa im Nahen Osten, scheinen sie besonders gewaltsam oder eskalationsfähig zu sein.
Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ab 1989 haben wir mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft geschaut. Der ist im wahrsten Sinne des Wortes enttäuscht worden. Wir können nicht mit einem historischen Ende der destruktiven Möglichkeiten des Menschen rechnen.
Aber was hat das mit Religion zu tun?
Religion spielt da mit, soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten kommen hinzu.
Wird denn der Nahostkonflikt immer mehr religiös aufgeladen?
Es gibt in allen großen Religionen fundamentalistische Tendenzen. Zu dieser sogenannten „Rückkehr der Religion“, von der wir seit den 70ern, 80ern des vergangenen Jahrhunderts sprechen, gehört auch die Enstehung neuer Fanatismen. Fundamentalistische Strömungen im Judentum, Christentum und im Islam haben friedensgefährdende Wirkungen. Auch deshalb ist der Dialog der Religionen eine wichtige Aufgabe. Er ist kein Allheilmittel zur Pazifizierung von Konflikten. Aber er ist alternativlos.
Könnte der gegenwärtige Nahostkonflikt über die Religion nach Deutschland, nach Berlin schwappen?
Die meisten Konflikte haben internationale Aspekte. In Frankreich hat er bereits Folgen gehabt. Es ist leider nicht auszuschließen, dass sich auch in Berlin oder anderen Städten Auswirkungen dieses Konfliktes zeigen können.
Wie in Frankreich: dass Synagogen angezündet werden?
Das hoffe ich nicht. Das muss in jedem Fall verhindert werden.
Hier in Berlin leben wir in einer stark säkularisierten Umgebung – Stichwort: gottloses Berlin. Könnte dies von Vorteil sein? Kann man sagen, dass säkularisierte Gesellschaften friedlicher sind als religiös geprägte?
Nein, das glaube ich nicht. Man sieht ja, dass auch dann, wenn Religion quasi abgeschafft wird, sich keineswegs friedliche Strukturen entwickeln. Die größten Verbrechen, die im 20. Jahrhundert von Menschen an anderen Menschen begangen wurden, erfolgten nicht im Namen einer Religion, sondern im Namen antireligiöser Ideologie wie des Nationalsozialismus oder des Stalinismus. Die Befreiung der Gesellschaften von religiöser Bedingungen dämmt die Gewalt nicht ein. Im Gegenteil.INTERVIEW: PHILIPP GESSLER
Der Pfarrer und Theologe Reinhard Hempelmann (48) ist Leiter der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Die EZW, seit 1997 in Berlin-Mitte, forscht und informiert im Auftrag der Evangelischen Kirche unter anderem über neue Entwicklungen auf dem Sektenmarkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen