Zum Tod des Kriminologen Fritz Sack: Jenseits des Straflustprinzips
Fritz Sack war Vorreiter einer radikalen Kritischen Kriminologie. In Hamburg gründete er das Institut für Kriminologische Sozialforschung.
Geboren wurde Sack 1931 im heute polnischen Stare Czarnowo als Kind von Landwirten. Flucht führte die Familie in die spätere DDR. Er selbst ging in den Westen, wo er eine Ausbildung zum Steuerinspekteur machte, bevor er sich der universitären Welt zuwandte. Soziologie als eigenständiges Fach gab es damals noch nicht. Seit 1960 war Sack verheiratet und wurde Vater dreier Kinder, darunter die Mediengestalterin Janine Sack, als Art-Direktorin für das Redesign der gedruckten taz im Jahr 2017 verantwortlich, und der Journalist Adriano Sack.
Über Kiel kam Fritz Sack nach Köln, wo er später Assistent des Soziologen René König wurde. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Columbus an die Ohio State University und die University of California in Berkeley. Sie beeinflussten seine Entwicklung nachhaltig.
In Columbus traf er auf eine quantitativ ausgerichtete, positivistische „Kriminologie zum Abgewöhnen“. In Berkeley aber begegnete er 1965/66 der Ethnomethodologie, die untersucht, wie Menschen ihren Alltag und ihre sozialen Interaktionen organisieren und selbst gestalten. Vor allem Aaron Cicourels „Method and Measurement in Sociology“ bezeichnete Sack später als sein „kriminologisches und soziologisches Konversionserlebnis“.
Die Auseinandersetzung mit symbolisch-interaktionistischen und marxistisch-materialistischen Konzepten führte ihn zum Etikettierungsansatz, der die Kriminologie in der Aufbruchstimmung der 1960er revolutionierte. Gegenüber der Frage „Warum wird jemand kriminell?“ rückte dieser die gesellschaftsorientierte Frage „Wie und warum wird jemand als kriminell bezeichnet?“ in den Vordergrund: Nicht mehr Kriminalität als angeblich offensichtlicher Tatbestand, sondern die Setzung von Regeln und die Prozesse der Kriminalisierung standen nun im Zentrum. Die Verbreitung dieses Ansatzes in Deutschland ist untrennbar mit Fritz Sack verbunden.
Nach seiner Habilitation 1970 in Köln lehrte Sack bis 1974 an der Universität Regensburg, bevor er von 1974 bis 1984 an der Universität Hannover den Lehrstuhl für Deviantes Verhalten und Soziale Kontrolle innehatte. 1984 wechselte er an die Universität Hamburg und übernahm dort den ersten und einzigen soziologisch ausgerichteten kriminologischen Lehrstuhl Deutschlands. Er baute das „Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie“ auf, das später dem heute aufgelösten Institut für Kriminologische Sozialforschung zugeordnet wurde.
Nach seiner Emeritierung 1996 leitete Sack bis 2012 das Hamburger Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung (ISIP). 1998 wurde er in die neu gegründete (und unter dem Senat von Beust/Schill wieder abgeschaffte) Hamburger Polizeikommission berufen, wo er seine Expertise in die Reform von Polizeiarbeit einbrachte.
Unumstritten war seine Theorie nicht. Seine polemische Ablehnung traditioneller, täterzentrierter Kriminologie führte zu einem Schulenstreit, der die kleine Disziplin spaltete. Kritiker wie Hans Joachim Schneider warfen ihm vor, durch seine kompromisslose Haltung eine der „unfruchtbarsten Epochen“ der deutschsprachigen Kriminologie eingeleitet zu haben.
Doch vermutlich ist das Gegenteil richtig und gerade diese Radikalität machte Sack zum Vorreiter einer Kriminologie, die Herrschaftsverhältnisse und soziale Ungleichheiten ins Zentrum stellte. Sein Einfluss zeigt sich auch in der Gründung des Arbeitskreises Junger Kriminologen 1969, der ein Forum für sozialwissenschaftlich orientierte Wissenschaftler:innen schuf, sowie in seiner langjährigen Redakteursarbeit für das bis heute bestehende Kriminologische Journal.
In einem dort erscheinenden Nachruf heißt es: „Wer Fritz Sack je kennengelernt hat, erlebte eine streitfähige, aber nicht streitsüchtige, eine bescheiden, aber entschieden auftretende Persönlichkeit, die bei aller Konzilianz ihre wissenschaftlichen Positionen argumentativ energisch zu behaupten wusste“.
Häufig war Sack als Experte auch Gesprächspartner der taz, wo er seine kritischen Analysen einem breiteren Publikum zugänglich machte. Und bis zum Ende blieb er ein eifriger Leser dieser Zeitung, immer am Puls gesellschaftlicher Debatten.
Die Machtstrukturen im Blick
Auch wenn Sacks Perspektive manchen heute aus der Zeit gefallen scheint, bleibt sie in einer immer mehr von Straflust geprägten Welt politisch und wissenschaftlich wichtig: Kriminalität ist wesentlich ein Produkt sozialer Prozesse der Zuschreibung. Ein kritischer Blick auf Kriminalität muss die Machtstrukturen einbeziehen, die solche Etikettierungen hervorbringen.
Anfang der 2000er studierten die Autoren dieser Zeilen selbst am Institut für kriminologische Sozialforschung. Da war Sacks radikaler Ansatz einer zweiten Generation der Kritischen Kriminologie gewichen, die zwischen der Analyse, wie Gesellschaft Kriminalität definiert, und der Suche nach den Bedingungen für kriminelles Handeln vermittelte.
Mit einem seiner letzten Auftritte als Dozent hat der da bereits Emeritierte aber noch sein Ausrufezeichen gesetzt: Die einzige Kriminologie, die es braucht, ist eine Kriminologie, die sich als kritische Gesellschaftswissenschaft begreift. Fritz Sack starb am 18. August im Alter von 94 Jahren.
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