Zum Jahrestag des Mauerfalls: Meine Wahrheit, deine Wahrheit
1962 erschoss ein BGS-Beamter einen DDR-Grenzer. 35 Jahre später wird der Schütze ermordet. Eine deutsch-deutsche Kriminalgeschichte.
GEISA taz | „Das ist doch Landschaft wie aus dem Bilderbuch!“, ruft Herbert Böckel und hebt beseelt die Hände. „Da kann doch so etwas Schlimmes nicht passiert sein?“ Der Wind lässt kurz nach. „Doch, es ist geschehen.“ Die Hände sinken wieder, er eilt weiter über den Kolonnenweg.
Die Hügel der Rhön leuchten in der Sonne rot und braun, der Sturm hat die Buchen gerupft. Rechts, wo jetzt eine Hecke wuchert, markierte ein Streckmetallzaun die Grenze. „Da unten liegt Wiesenfeld, ein ganz verschlafenes Dorf.“ Dort war die Kompanie von Hauptmann Arnstadt stationiert. Von dort brachen die Soldaten am 14. August 1962 auf, um einen neuen Grenzzaun zu errichten.
An jenem Tag kam es hier zum heftigsten Schusswechsel, den es je zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West gegeben hat. Hauptmann Arnstadt stirbt durch Kopfschuss. Er ist der hochrangigste DDR-Offizier, der an der Grenze ums Leben gekommen ist, getötet vom BGS-Grenzoberjäger Hans Plüschke. 35 Jahre später wird Plüschke erschossen, kaum acht Kilometer von hier entfernt. Der Mord ist nicht aufgeklärt. Ein Racheakt alter Seilschaften, sagt Herbert Böckel. Böckel war Zeuge der Schießerei an der Grenze.
Böckel, kurze silbrige Haare, schmaler Mund, wache Augen, redet unentwegt. Fünf Tage vor seinem Tod musste Rudi Arnstadt, SED-Genosse, Vorzeigeoffizier, eine Schlappe einstecken. Ein Soldat war mit einem sowjetischen Artillerieschlepper in den Westen getürmt. Und so bewachen 50 seiner Leute besonders aufmerksam 150 Soldaten, die Betonpfähle setzen und Stacheldraht spannen. Der Grenzverlauf ist hier so verworren, als hätte ein trotziges Kind mit einem Stock den Strich gezogen, der Europa teilt. Nach links, nach rechts, dann wieder im scharfen Winkel zurück.
Wirrer Grenzverlauf
Die Grenzsteine lugen wie Fossilien aus dem Boden. Böckel steht am Stein 330, das Gelände zwischen Wiesenfeld und Setzelbach ist abschüssig. Unten haben die DDR-Soldaten gearbeitet, oben stand der BGS. Böckel fasst die Markierung, legt wie ein Blinder den Finger in die Kerbe, will die Vertiefung in dem Scheitel spüren, die den genauen Grenzverlauf nachvollziehen soll. Ein stummer Zeuge, versunken zwischen Hagebutten, Gestrüpp und raschelndem Laub. Zwei Rehe springen vorbei.
Böckel hat die Ereignisse vom 14. August 1962 auf Papier gebannt, hat die Positionen der DDR-Grenzer und BGS-Beamten eingetragen. Jetzt steht er zwischen Büschen, dreht die Karte, versucht Papier, Wildnis und Vergangenheit überein zu bringen, das Gelände, die Schüsse, den Toten. In der Ferne ragt ein DDR-Wachturm, Böckel blickt zur Grasnarbe, zum Feldweg. Seit über 50 Jahren kommt er hier nicht mehr weg. Am Boden liegt irgendwo ein Hauptmann. Blut sickert. Schüsse peitschen. Im Todesstreifen verstecken sich Rehe. Es ist ein Vexierbild.
Arnstadt wollte an dem Tag BGS-Männer „hoppnehmen“, um den Makel vergessen zu machen, dass ein Mann getürmt ist, glaubt Böckel. Daher habe der NVA-Offizier am Morgen mit einem seinen Soldaten Details über eine geplante Festnahme von Bundesgrenzschützern besprochen, habe geglaubt, der wirre Grenzverlauf würde die BGS-Leute in eine Falle führen. Drei BGS-Männer patrouillieren gegen elf Uhr direkt an der Grenzlinie. Plötzlich habe Arnstadt gerufen: „Halt! Stehen bleiben! Sie befinden sich auf dem Gebiet der DDR!“
Arnstadt soll einen Warnschuss abgefeuert haben und in Richtung BGS gelaufen sein. Der 23-jährige Bundesgrenzschützer Plüschke glaubt, dass sein Vorgesetzter getroffen sei, reißt das Gewehr von der Schulter, feuert aus der Hüfte und trifft Arnstadt ins rechte Auge. Danach beginnt eine wilde Schießerei. Die DDR-Grenzer feuern 30 bis 40 Schuss ab, der BGS vier. Nach langen Minuten beruhigt sich die Lage, Grenzer bergen den toten Arnstadt.
Ins Auge getroffen
So erzählt es Herbert Böckel, der mit weiteren BGS-Leuten die Patrouille aus dreißig Metern Entfernung beobachtet hat. So lautet die Version des BGS. Gegen Hans Plüschke wird ermittelt, das Verfahren im Herbst ’62 eingestellt, die Notwehr bejaht. Die DDR verbreitet eine ganz andere Geschichte: Terroristen der Adenauer-Clique wären bewaffnet in die DDR eingedrungen und hätten das Feuer eröffnet. Der 35-jährige Arnstadt wird zum Blutzeugen für das bessere Deutschland.
Sein Leichnam wird im offenen Sarg im Kulturhaus im nahen Geisa aufgebahrt, anschließend nach Erfurt überführt. 6.000 Werktätige säumen den Weg zum Ehrengrab auf dem Hauptfriedhof am Hain für die Opfer des Faschismus. „Millionenfach pflanzt sich der Fluch fort, der die Mörder unseres toten Genossen trifft“, gelobt ein Kommandeur wie ein Rachegott.
Das Vermächtnis des „Friedenskämpfers“ halten fortan Kollektive, Brigaden, Schulen wach, die den Ehrentitel „Rudi Arnstadt“ tragen. In seinem Wohnort Wiesenfeld wird eine Gedenkstätte errichtet. In „treuer Pflichterfüllung“ ist Arnstadt „von Banditen des BGS ermordet“ worden, steht auf Granit. Der Todesschütze wird von einem DDR-Gericht zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Allerdings in Abwesenheit und namenlos, der BGS hält die Identität Plüschkes aus Angst vor Anschlägen geheim.
Die Russen lösten kurz nach den Schüssen Alarm aus, die Amerikaner ebenfalls. „Wir hatten die Befürchtung, dass es losgeht.“ Es ist, als steckt Herbert Böckel die Schießerei noch in den Knochen. Der „Fulda Gap“, die Fulda-Lücke, galt als Einfallstor. Hier schob sich die DDR weit in den Westen vor. Binnen Stunden hätten sowjetische Truppen zum Rhein-Main-Gebiet vorstoßen und die Bundesrepublik zerteilen können. Zur selben Zeit stationierte der Kreml heimlich Truppen und Atomraketen auf Kuba. Es roch überall nach Angriff.
Neue Existenz: Taxifahrer
Doch der Dritte Weltkrieg findet nicht statt. Die DDR perfektioniert ihre Grenze; Herbert Böckel wird Polizist, Hans Plüschke scheidet aus dem BGS aus und gründet im nahen Hünfeld ein Taxiunternehmen. Dass er der Todesschütze war, bleibt sein Geheimnis. Zum eigenen Schutz trägt Plüschke fortan eine Waffe.
Kurz nach dem 9. November 1989 öffnet sich auch in der Rhön die Grenze. Bald chauffiert Hans Plüschke Kundschaft in den Osten. Schnell wird der Taxifahrer in Geisa bekannt. Wahrscheinlich fällt mit jeder Fuhre über die einstige Grenze ein Stück Beklemmung von ihm ab. Was gestern Gegenwart war, ist heute Geschichte. Der Schriftzug „Rudi Arnstadt“, seit 1972 am Kulturhauses Geisa, verschwindet.
Zeit für Plüschke, sich zu erleichtern? Der Schuss liegt 35 Jahre zurück, als er im August 1997 im Fernsehen sein Geheimnis lüftet. Der 58-Jährige gibt der „Hessenschau“ ein Interview, erzählt von jenem Augusttag, redet von dem Schuss, der sein Leben veränderte, von seinen Ängsten um sich und seine Kinder, sagt: „In gewissem Sinne bin auch ich Opfer des Kalten Krieges.“ Sieben Monate später ist er tot, Kopfschuss neben dem rechten Auge, Kleinkaliber.
Tageseinnahmen sind nicht gestohlen
Böckel begreift bis heute nicht, waeum Plüschke geredet hat. Es habe danach Drohungen gegeben. In der Nacht zum 15. März 1998 holt Plüschke um 4 Uhr einen Unbekannten an einer Telefonzelle im nahen Rasdorf ab. In einer Senke zwischen Rasdorf und Hünfeld ist die Fahrt vorbei. Die Leiche wird aus dem Taxi geschafft und an der Straße abgelegt. Die Tageseinnahmen sind vollzählig. Die Ermittlungen gehen ins Leere. Von dem Mörder fehlt jede Spur.
„Da waren Profis am Werk.“ Herbert Böckel hat keine Zweifel. „Wer hat die Fähigkeiten dazu, wenn nicht ehemalige Stasimitarbeiter?“ Böckel ist auf die Ermittlungsbehörden in Fulda nicht gut zu sprechen, die blind zu sein scheinen, für das, was er vor Augen hat wie eine grausige Vision: dass sein Kollege einer späten Rache zum Opfer fiel. Die Vorgeschichte, das Interview, die Drohungen, die Perfektion der Tat – er hat alle Indizien in dem Buch „Der zweifache Tod im Schatten der Grenze“ aufgelistet. Wer hat ein Interesse an Plüschkes Tod, wenn nicht die Genossen von Hauptmann Arnstadt, die wie in einer Fatwa Schwüre ausgestoßen haben?
Dass so ein Mord mitten in Deutschland nach 15 Jahren nicht aufgeklärt ist, macht Böckel fassungslos. Der pensionierte Beamte, bei dem das Wort Freiheit einen geradezu altertümlichen Klang hat, wirkt enttäuscht von der Bundesrepublik, die er an der Grenze beschützt hat. Böckel steigt in sein Auto. Bald wird er die Stelle passieren, wo Plüschke starb. Mit Kollegen vom BGS ließ er dort eine Gedenktafel anbringen.
Rächte sich die Stasi?
Hinter der Kirche von Wiesenfeld liegt der Ehrenhain für Rudi Arnstadt. Efeu umrankt den Granit. Vor einem Jahr, zum 50. Todestag, trafen sich hier 51 Kameraden, ehemalige Grenzer, Klassenkämpfer. Die Plakette mit der Tirade gegen die „BGS-Banditen“ ist ausgetauscht, heute stehen nur noch Arnstadts Name, Geburts- und Sterbedatum dort. Dennoch redet der Stein. An einem Zweig hängt unter Folie ein feucht gewordener Zettel: „Es gibt Deine Wahrheit, Meine Wahrheit und Fakten.“ Es scheint, als will jemand den toten Arnstadt mit Macht zur Rede stellen.
„Es gibt Dinge, die zum Nachdenken zwingen“, räumt Oberstaatsanwalt Lars Streiberger aus Fulda am Telefon ein, der mit dem Fall Plüschke betraut ist. Doch belastbare Hinweise auf alte Seilschaften ließen sich nicht ermitteln. Was bleibt, sei eine Hypothese. Im Frühjahr habe er einen Offizier der DDR-Grenztruppen nach Hintergründen befragt. Ohne neue Hinweise. Im Oktober habe man noch einmal das Kleinkalibergeschoss untersuchen lassen. Ohne Ergebnis. Die Ermittlungen seien eingestellt, bedauert Streiberger.
Am Stadtrand von Berlin lebt ein ehemaliger Major der Grenztruppen. An das Vorkommnis vom 14. August 1962 kann er sich noch gut erinnern, er war damals Gruppenführer an der Grenze. Mitte der achtziger Jahre unterlief ihm dasselbe Malheur wie Arnstadt. Vier Arbeiter türmten. Der Offizier, Jahrgang 1941, brach, nach jahrelangem Druck, einfach zusammen, wurde in die Etappe versetzt. Heute ist er einer der wenigen, die zum Fall Plüschke reden.
Dass sich alte Kameraden gerächt haben, glaubt er nicht. Zu so einem Unternehmen sei nur die Stasi fähig. Die habe Spezialkommandos ausgebildet, die auch nach einem Ende der DDR gegen „Zielpersonen“ vorgehen sollten. War Plüschke eine Zielperson? Nur Einfältige könnten glauben, meint der Major, dass Stasikämpfer Aufträge abbrechen, nur weil die DDR inzwischen untergegangen ist.
Sein Wissen hat er Oberstaatsanwalt Streiberger anvertraut. Der Offizier hat ein ganz privates Interesse an der Aufklärung. Wie Hans Plüschke stammt er aus Schlesien. Mehr noch: Er selbst heißt Plüschke, Lothar Plüschke, ist ein Großonkel des toten Plüschke. Seit 2002 weiß er davon. Kennengelernt haben sie sich nie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist