Zum 100. Geburtstag von Sun Ra: Musik für ein besseres Morgen
Space is the place: Der Musiker Sun Ra wandte sich gegen rassistische Zustände auf Erden und kreierte einen utopischen Raum in der Zukunft.
Die Wahrheit über den Planeten ist eine böse Wahrheit. So lautet das Mantra des Stücks „The Truth About Planet Earth“, Sun Ra Live 1978. Nach sieben Minuten bad & sad truth zu Schlagzeug und Piano folgt der nächste Song. Gebetsmühlenfunky wiederholen die vier Musiker: „Space is the place, Space is the place …“
Nimmt man die beiden Titel beim Wort, dann hat man die Essenz des Sun Ra. Die Erde ist ein feindseliger Ort für einen African American, also lasst uns ein besseres Morgen suchen im Space!
Viele Motive bei Sun Ra haben einen doppelten Boden: Space ist der Raum zum Leben und das Weltall. Dass der afroamerikanische Visionär des Freien Jazz Zuflucht im Space sucht, das hat auch damit zu tun, dass er in Birmingham, Alabama zur Welt kommt, „der vielleicht am schärfsten segregierten Stadt der Erde“, so sein Biograf John Szwed.
Hier regiert der Ku-Klux-Klan, noch 1963 fallen in einer Baptistenkirche vier schwarze Mädchen einem Anschlag zum Opfer, im selben Jahr setzt George Wallace, der Gouverneur von Alabama, die Nationalgarde ein, um die weißen Schulen „negerfrei“ zu halten.
Kein Platz zum Leben
Zu diesem Zeitpunkt ist der am 22. Mai 1914 als Herman Poole Blount geborene und im Zeichen des Southern Baptism aufgewachsene Pianist und Bandleader längst im toleranteren Norden gelandet. „Space-Stimmen“ und „Space-Weisheit“ haben ihn nach Chicago gebeamt, erklärt der Mann, der sich nach dem ägyptischen Sonnengott Sun Ra nennt und vom Saturn kommt.
Balkan Music Co. ist ein Studio im Chicagoer Stadtteil Pilsen, dort steigt 1956 die erste Session für Sun Ras neues Label: El Saturn Records. Slogan: „Beta Music For A Beta World.“
Alabama, Ägypten, Balkan, Chicago, Pilsen, Saturn – der Mann ist herumgekommen, die Grenze zwischen realen und imaginären Orten ist obsolet, wenn Space der einzige Place ist, wo man leben kann als African American.
Wie die von ihm viral beeinflussten Dub- bzw. Funk-Gottheiten Lee Scratch Perry („Arkology“) und George Clinton („Mothership Connection“) gilt Sun Ra als Wahnsinnsgenie. Auf der Seite des Wahnsinns verorten auch viele Fans von Ra, Perry & Clinton die kryptoreligiöse bis synkretistische Rede vom Space, der the Place sein soll.
Archestra als Gegenmodell zu Sklavenschiffen
Glücklicherweise folgen Sun Ra kluge Sternendeuter, die den Esoterik-Verdacht entkräften und seinen Space-Tick auf eine, nun ja, historisch-materialistische Grundlage stellen.
Menschenhandel heißt das Geschäft. Schwarze Frauen und Männer aus Afrika werden auf Schiffen über den Atlantik geschafft, diejenigen, die nicht ins Meer geworfen werden, weil sie schwach sind oder schwanger, finden sich in einer unbarmherzigen Welt wieder.
Sie werden gemustert, vermessen, taxiert, von ihren Angehörigen getrennt und dienen fortan fremden Herren weißer Hautfarbe. Sun Ra ist nicht zu verstehen ohne die afrikanisch-amerikanische Matrix namens Sklaverei, eine Erfahrung der Dislokation, der Auslöschung von Geschichte.
Historische Antworten: Nein, ich bin nicht Cassius Clay, ich bin Muhammad Ali. Mein Name ist X, Malcolm X, ich scheiß auf meinen Sklavennamen. Ich bin Sun Ra, Space ist mein Place. Arkestra nennt er seine Band, noch ein doppelter Boden: Wie Arkestra klingt es, wenn sie im Süden Orchestra sagen. Ark ist die Arche, das rettende Gegenmodell zu den Sklavenschiffen.
Ein utopischer Raum
Die intergalaktische Zukunft sei ein Ort der Selbstprojektion, ein utopischer Raum, befreit von der irdischen Last aus Vorurteilen und Ungleichheiten. So erläutert die Kunstprofessorin Camille Norment Sun Ras Anrufung des Außerirdischen und Exotischen. Unabhängigkeit durch Separation statt Integration, diese politische Option hört der Kritiker John Corbett in Sun Ras Space-Mantra.
Beide Ra-Analytiker umschreiben so eine komplexe Praxis, für die sich bald der Begriffscontainer Afrofuturismus etabliert. Sun Ra: „Das Unmögliche zieht mich an, denn alles Mögliche ist schon gemacht worden, und die Welt hat sich nicht verändert.“
Obamas Präsidentschaft geht zu Ende, ohne dass sich irdische Glücksversprechen über die Maßen erfüllt hätten, da strahlt Sun Ras eskapistisch-separatistische Space-Vision zum 100.Geburtstag umso heller.
Auf der eingangs erwähnten Version von „Space is the Place“ – einer von Tausenden im wuchernden Werk Sun Ras – wird zwei Minuten lang die Titelzeile repetiert, ehe die Instrumente einsteigen, in aller Freiheit, befreit von allem Staub, den Feinde und Freunde des Free Jazz angehäuft haben.
Lesbarkeit vergweigern
Die Dialektik von Freiheit und Disziplin, eine Spezialität des Drogengegners und Disziplinfanatikers Sun Ra, ist überliefert von Mitmusikern. „Wir haben so viel geübt, es war eine sehr schwierige Musik“, so der Trompeter Art Hoyle. „Er sagte mir, ich solle improvisieren, ich fragte, in welcher Tonart (key), und er sagte: space key.“
Exzentriker wie Thelonious Monk oder Sun Ra „verweigerten die Lesbarkeit ihrer oft nur instinktiv befolgten Strategie mit jedem Schritt“, schreibt der Autor Diedrich Diederichsen und sieht darin ein Modell des autonomen Künstlers, das sich der Fremdbestimmung durch die weiße Mehrheit entzieht, und sei es durch exotische Verkleidungen und Soundmaskeraden.
An „tones not notes“ glaube Sun Ra, also benutzt er als einer der ersten Jazzer übernatürliche Instrumente. Moog Synthesizer und Rhythmusmaschine machen Supertöne, auch ohne Notation.
Trompeter Hoyle erzählt von einer nächtlichen Begegnung mit dem Arkestra 1961 in New York: „Sie trugen Bergarbeiterhelme mit Grubenlampen, Sun Ra hatte eine riesige Goldkette mit einer Sonne auf der Brust. In der Empfangshalle trafen sie auf eine Lady, die war zu Tode erschrocken, sie hielt sie für Außerirdische.“
Außerirdische Sexualität
Sun Ras Sehnsucht nach dem Außerirdischen ist für den afrobritischen Autor Kodwo Eshun ein Bruch mit den christlich grundierten Erlösungsversprechen von Southern Gospel und Soul, die „das ganze Projekt der Bürgerrechtsbewegung“ geprägt hätten.
Außerirdisch war auch Sun Ras Sexualität, zumindest gemessen an der Alabama-Norm des 20. Jahrhunderts. Darauf weist Tim Stüttgen in der Zeitschrift Testcard und schlägt eine queere Lesart des Ausnahmekünstlers vor. „Oder – wie ich es lieber nennen möchte – quare.“
Quare? Wieder doppelter Boden: Der afroamerikanische Queer-Theoretiker J. Patrick Johnson verwendet den Begriff so, wie seine Südstaaten-Großmutter ihn ausgesprochen habe. So soll quare „in die unmarkiert weiße Fundierung queerer Theorien intervenieren“.
Angesichts der Homophobie im (afro-)amerikanischen Jazz hatte jede Andeutung von Gay Pride die Überlebenschance eines Schneeballs in der Hölle, so Stüttgen. „Bei Sun Ra, dessen Alien Drag sich radikal der geschlechtlichen und menschlichen Normativität entzieht, verkompliziert sich die Quareness noch mehr, wenn man seine angebliche Homosexualität mitdenkt.“
Galaktische Musik und Sonnenstaub
Nach seinem Tod 1993 wird öffentlich, dass Sun Ra schwul war, jedoch kaum sexuelle Kontakte hatte. Sein Biograf John Szwed verschweigt diese Tatsache, zitiert jedoch Sun Ras Credo: Sex habe ihn nie interessiert, das einzig Bedeutende auf der Welt sei die Musik, „a full compensation for any handicaps I have“.
Seine angeborenen Handicaps im irdischen Jetzt kompensiert er mit galaktischer Musik für ein besseres Morgen: „Jazz From Tomorrow’s World“ heißt ein Album, „Of Other Tomorrows Never Known“ ist sein Gruß an die Beatles, deren „Tomorrow never knows“ 1966 der Rockmusik den Weg in ein besseres Morgen weist.
Sun hinterlässt Sonnenstaub an entlegenen Orten, weit ab vom Planeten Jazz. Detroits Agit-Rocker MC5 covern sein „Starship“, Detroits Techno Guerilla Underground Resistance bereist die Ringe des Saturns, im Kölner Opernhaus rekonstruiert Karlheinz Stockhausen Sun Ras Alien Drag, im Post-Acid-England beschwört die Band mit dem sprechenden Namen A.R.Kane „Love from outta space“ Liebe ohne Handicap.
Im Post-Punk England modelliert Jerry Dammers The Specials (& The Special AKA) nach dem Vorbild des Arkestra, bevor er seine Schaffenskraft ganz dem Sonnengott widmet: The Spatial AKA Orchestra.
2014 schließlich kritisiert die Austroberliner Band Ja, Panik mit Sun Ra die Abschottungspolitik der Festung Europa: „Ich wünsch mich dahin zurück, wo’s nach vorne geht / ich hab auf back to the future die Uhr gedreht / space is the place, der die Flüchtigen liebt / ganz wie jeder Anfang in Trümmern liegt / not sans papier, but sans patrie.“
Space ohne Vaterland. Hätte Sun Ra gefallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen