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Zukunftsforschung in der NischeDas Undenkbare denken

In Deutschland konnte die Zukunftsforschung nie richtig Fuß fassen. Bundesweit gibt es nur einen Master-Studiengang für den Blick in die Zukunft.

Schweizer Alpen, Hochhäuser von Chicago und eine Pariser Fußgängerbrücke in einer Fotomontage vereinigt. Foto: imago/Mario Aurich

Berlin taz | Mit der Zukunft kann die deutsche Wissenschaft nicht viel anfangen. An den Hochschulen ist die Zukunftsforschung zum Nischenfach geschrumpft. „Klein, aber fein“, etikettiert Reinhold Popp den von ihm betreuten Masterstudiengang Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin, der gerade seinen fünften Jahrgang mit bislang 100 Studierenden gefeiert hat.

„Man sollte eine Wissenschaft stiften, nämlich die Wissenschaft der Zukunft, die zumindest so großen Nutzen leisten dürfte wie die Wissenschaft der Vergangenheit“, zitiert Popp gern den deutschen Nationalökonomen Friedrich List, der schon im vorletzten Jahrhundert eine größere Ausgewogenheit bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gewesenen und dem Kommenden einforderte. Doch die Dominanz der akademischen Historiker ist bis heute ungebrochen.

Seit 2010 bietet die FU Berlin das einzige Lehrangebot in Deutschland an, das sich systematisch mit der Zukunft beschäftigt. Der Erziehungswissenschaftler Gerhard de Haan hatte den Master-Studiengang an seinem Fachbereich initiiert und Popp aus Österreich nach Berlin geholt. An der Fachhochschule Salzburg hatte Popp jahrelang das Institut für Zukunftsforschung geleitet, das dort in einer außergewöhnlichen Konstruktion von Gewerkschaften und Arbeitgebern getragen wurde, um sich der Zukunft der Arbeit zu widmen.

„Anfangs war ich skeptisch, ob der Studiengang bei der Unterschiedlichkeit der Dozenten funktionieren kann“, blickt Professor de Haan zurück. In dem zweijährigen Masterstudium bieten Dozenten aus anderen Disziplinen wie Wirtschafts- und Naturwissenschaften sowie externe Lehrbeauftragte vor allem „Methodenwissen“ zur Erfassung und Bewertung von Veränderungen an. „Beruhigt war ich dann, als ich die ersten Abschlussarbeiten gelesen hatte“, so de Haan. „Sie zeigten doch ein sehr hohes Anspruchsniveau“.

Themen des aktuellen Studienjahrgangs sind etwa Forecasting und Leadership in Unternehmen, Gerechtigkeit und Vielfalt in der nachhaltigkeitsorientierten Zukunftsforschung, Potenziale der Gemeinwohl-Orientierung und die Relevanz von „kognitiven Verzerrungen“ für Zukunftswahrnehmung.

Jerusalem 2060

In einem spannenden Dissertationsprojekt der politischen Zukunftsforschung mit dem Titel „Jerusalem 2060“ untersucht Julia Lampert, wie die heute verfeindeten Lager in Nahost in der übernächsten Generation aufgestellt sein könnten. Rund 50 Zukunftseinrichtungen gibt es nach Popps Überblick an den Universitäten weltweit.

Im deutschsprachigen Raum hat es in den letzten Jahrzehnten keine Entwicklung zu einer eigenen Disziplin gegeben. Vielversprechende Anfänge auch in Berlin, mit der „Futurologie“ des Politikwissenschaftlers Ossip K. Flechtheim am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin oder die Zukunftsprofessur von Robert Jungk an der TU Berlin in den 70er Jahren, haben mit dem Weggang der Koryphäen ihr Ende gefunden.

Hierzulande gibt es außer in Berlin noch zwei Stiftungsprofessuren in Aachen (Axel Zweck) und in Heide, Schleswig-Holstein (Ulrich Reinhardt), die Zukunftswissenschaft im Namen tragen.

Die größte Verankerung hat die Zukunftsforschung dagegen im außeruniversitären Raum. Ein Beispiel ist das Berliner Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), das sich durch öffentliche und privatwirtschaftliche Förderaufträge finanziert. Gut im Geschäft sind auch private Institute, die sogenannte Trendforschung anbieten, etwa für die Prognose von Konsummärkten.

Während die akademischen Zukunftswissenschaftler um die Trendforscher lieber einen Bogen machen, ist es bei den Studenten eher umgekehrt. Nicht wenige Absolventen des FU-Zukunftsstudiums haben Jobs in Consulting-Agenturen gefunden, die für ihre Kunden professionelle Zukunftsschau betreiben.

Großes Interesse in der Industrie

„Der Studiengang hat mich befähigt, mit Möglichkeitsräumen zu arbeiten“, sagt Jana Wichmann, die heute bei dem Berliner Beratungsunternehmen Impact Solutions beschäftigt ist. „Entscheidend ist die Methodik, um Handlungsfelder zu identifizieren.“ Das interessiert etwa Finanzdienstleister, Automobilfirmen und Software-Hersteller. Mit dem Zukunftswissen aus der Uni baute die Firma im kommenden November ein „Urban Innovation and Leadership Lab“ auf, das junge kreative „Changemaker“ nach Berlin ziehen soll. „Deutschland ist in dieser Hinsicht noch etwas hinterher, weil unsere Innovationskultur rückständig ist“, urteilt Zukunftsexpertin Wichmann. „Aber es wird aufgeholt“.

Zukunft ist wertvoll: Das Master-Studium der FU ist ein Bezahlstudiengang, das 1.300 Euro im Semester kostet. Für alle zwei Jahre 5.200 Euro. Auch der Soziologe Julian Kattinger hat den Betrag investiert und sich danach als freiberuflicher Berater selbstständig gemacht. Er arbeitet jetzt hauptsächlich für Wirtschaftsverbände und andere privatwirtschaftliche Auftraggeber. „Die wollen wissen, was in den nächsten 10 bis 15 Jahren auf sie zukommt“.

Kattinger erklärt dann, dass es keinen einzigen Weg in die Zukunft gibt, sondern sich unterschiedliche „Möglichkeitsräume“ eröffnen, die sich auch mit eigenem Zutun aktiv gestalten lassen. „Für diese Expertisen gibt es einen großen Markt“, hat der FU-Absolvent festgestellt. „Auch weil es immer häufiger zu disruptiven Veränderungen kommt, auf die reagiert werden muss“.

Möbel aus dem 3-D-Drucker

Auch bei der öffentlichen Hand wächst erkennbar das Zukunftsinteresse. Im Rahmen eines groß angelegten „Foresight“-Prozesses des Bundesforschungsministeriums hat jetzt das VDI Technologiezentrum in Düsseldorf eine dreibändige Studie über die Welt im Jahr 2030 vorgelegt. Das könnte eine Zeit sein, so eines der Szenarien, in der Möbelhersteller statt Schrankwänden ihren Kunden nur noch Anleitungen und Rohmaterial anbieten, damit sie ihre Möbel mit ihrem 3-D-Drucker selbst bauen und gestalten können. Untersucht wurden elf Technologiefelder, darunter Biotechnologie, Dienstleistungen, Energie, Gesundheit und Ernährung, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Mobilität und Produktion.

Wichtig ist aus Sicht von VDI-Projektleiter Axel Zweck, die Trenderkennung mit einer Bewertung zu verbinden. „Es reicht also nicht aus, zukünftige Entwicklungen einfach nur zu kennen, sondern es kommt auf die Bedeutung und die Wirkungen dieser Entwicklungen für den jeweiligen Adressaten an“, betont Zweck.

Vielleicht kommt auf diesem Wege der Praxisnachfrage die Zukunftswissenschaft in den Hochschulen dann doch wieder zu stärkerer Anerkennung. In einer eigenen Zukunftsschau hat das Team von Reinhold Popp die Perspektive des Fachs eruiert. In einer repräsentativen Befragung von 4.000 Personen waren immerhin 68 Prozent zuversichtlich, dass in 20 Jahren an vielen Universitäten nicht nur Geschichte, sondern auch Zukunftswissenschaft studiert werden kann.

* Anmerkung: In einer ersten Fassung des Textes war zu lesen, dass Popps Salzburger Institut nach seiner Emeritierung abgewickelt wurde. Das ist nicht richtig. Das Zentrum für Zukunftsstudien an der FH Salzburg besteht weiterhin.

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4 Kommentare

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  • Es besteht leider Grund zur Annahme daß an einem /realistischen/ Blick in die Zukunft hierzulande nach wie vor kein Interesse besteht - insbesondere wenn eingefleischte Wirtschaftsinteressen berührt werden. Schon jetzt wird das Dringende nicht erledigt, das Machbare nicht gemacht - siehe Klimawandel. Es sind halt schöne wohlklingende englische Worte die man da von sich geben kann..

  • Ach ja, zur Überschrift wollt' ich noch sagen: Es wär' schon hilfreich, wenn sie wenigstens das Denkbare denken würden, unsere hoch dotierten Wissenschaftler mit und ohne X. Das Undenkbare können sie meinetwagen einstweilen noch den Schriftstellern überlassen.

  • 86 Prozent, ja? Da bin ich also mal wieder bei der Minderheit.

     

    Ich glaube nicht daran, dass eine Zukunftsforschung, die die eigene Zukunft erforscht, wirklich aussagefähig ist, wenn sich ihr Optimismus allein auf dem Optimismus von 4.000 befragten Optimisten gründet. So etwas hat meist ausgesprochen "disruptive Veränderungen" zur Folge, auf die dann selten angemessen reagiert wird, weil niemand sie hat kommen sehen.

     

    Friedrich List war Wirtschaftstheoretiker. Womöglich sind ja die (Markt-)Wirtschaftswissenschaften genau deswegen die einzigen, die sich momentan überhaupt so etwas wie eine Zukunftsforschung leisten. Man kann allerdings prima drüber streiten, ob eine "Wissenschaft der Vergangenheit" tatsächlich einen nennenswerten Nutzen hat, wenn sie ausschließlich eine Wissenschaft der Vergangenheit der (Markt-)Wirtschaft ist. Eine eventuelle Zukunftsforschung braucht daher auch nicht unbedingt sinnvoll zu sein, wenn sie nur eine der (Markt-)Wirtschaft ist.

     

    Dass ich mir ausgerechnet im Rahmen eines Bezahlstudiums von jemandem, der als "freiberuflicher Berater" etwas "investiert" hat in sich selbst, "Möglichkeitsräume" erklären lassen würde, glaube ich jedenfalls nicht Und wenn "die Dominanz der akademischen Historiker [...] bis heute ungebrochen [ist]", dann zeigt mir das mal wieder überdeutlich, dass der Akademiker als solcher unmöglich so klug sein kann, wie immer gern behauptet wird.

     

    Nein, ich brauche keine Zukunftsforschung um zu wissen, was passieren wird, wenn in Zukunft ausschließlich ökonomisch Interessierte in die Zukunftsforschung investieren und zugleich ausschließlich ökonomisch Interessierte an der Zukunft forschen. Und was Vergangenheit für deutsche Wissenschaftler so viel attraktiver macht als jede Zukunft, weiß ich auch: Was war, lässt sich beweisen. Was sein wird, nicht. Man kann viel besser recht haben, wenn man Vergangenheit erforscht. Für Deutsche ist das entscheidend, denke ich.

  • Sogenannte "Trendforscher" bleiben mit ihren Analysen stets in der Gegenwart. Wer Zukunftsforschung wirklich betreiben will, der macht nicht nur aus dem Marketing bezahltes Anglizismus-Lego mit cool new stuff der Jetztzeit, sondern stellt wissenschaftlich nachvollziehbare (!) Szenarien auf. Der Unterschied zwischen Marktforschung, Zukunftsforschung und Trendforschung ist z.B. hier nachzulesen: http://www.ibusiness.de/zukunftsforschung/