Zukunftsforschung in der Nische: Das Undenkbare denken
In Deutschland konnte die Zukunftsforschung nie richtig Fuß fassen. Bundesweit gibt es nur einen Master-Studiengang für den Blick in die Zukunft.
„Man sollte eine Wissenschaft stiften, nämlich die Wissenschaft der Zukunft, die zumindest so großen Nutzen leisten dürfte wie die Wissenschaft der Vergangenheit“, zitiert Popp gern den deutschen Nationalökonomen Friedrich List, der schon im vorletzten Jahrhundert eine größere Ausgewogenheit bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gewesenen und dem Kommenden einforderte. Doch die Dominanz der akademischen Historiker ist bis heute ungebrochen.
Seit 2010 bietet die FU Berlin das einzige Lehrangebot in Deutschland an, das sich systematisch mit der Zukunft beschäftigt. Der Erziehungswissenschaftler Gerhard de Haan hatte den Master-Studiengang an seinem Fachbereich initiiert und Popp aus Österreich nach Berlin geholt. An der Fachhochschule Salzburg hatte Popp jahrelang das Institut für Zukunftsforschung geleitet, das dort in einer außergewöhnlichen Konstruktion von Gewerkschaften und Arbeitgebern getragen wurde, um sich der Zukunft der Arbeit zu widmen.
„Anfangs war ich skeptisch, ob der Studiengang bei der Unterschiedlichkeit der Dozenten funktionieren kann“, blickt Professor de Haan zurück. In dem zweijährigen Masterstudium bieten Dozenten aus anderen Disziplinen wie Wirtschafts- und Naturwissenschaften sowie externe Lehrbeauftragte vor allem „Methodenwissen“ zur Erfassung und Bewertung von Veränderungen an. „Beruhigt war ich dann, als ich die ersten Abschlussarbeiten gelesen hatte“, so de Haan. „Sie zeigten doch ein sehr hohes Anspruchsniveau“.
Themen des aktuellen Studienjahrgangs sind etwa Forecasting und Leadership in Unternehmen, Gerechtigkeit und Vielfalt in der nachhaltigkeitsorientierten Zukunftsforschung, Potenziale der Gemeinwohl-Orientierung und die Relevanz von „kognitiven Verzerrungen“ für Zukunftswahrnehmung.
Jerusalem 2060
In einem spannenden Dissertationsprojekt der politischen Zukunftsforschung mit dem Titel „Jerusalem 2060“ untersucht Julia Lampert, wie die heute verfeindeten Lager in Nahost in der übernächsten Generation aufgestellt sein könnten. Rund 50 Zukunftseinrichtungen gibt es nach Popps Überblick an den Universitäten weltweit.
Im deutschsprachigen Raum hat es in den letzten Jahrzehnten keine Entwicklung zu einer eigenen Disziplin gegeben. Vielversprechende Anfänge auch in Berlin, mit der „Futurologie“ des Politikwissenschaftlers Ossip K. Flechtheim am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin oder die Zukunftsprofessur von Robert Jungk an der TU Berlin in den 70er Jahren, haben mit dem Weggang der Koryphäen ihr Ende gefunden.
Hierzulande gibt es außer in Berlin noch zwei Stiftungsprofessuren in Aachen (Axel Zweck) und in Heide, Schleswig-Holstein (Ulrich Reinhardt), die Zukunftswissenschaft im Namen tragen.
Die größte Verankerung hat die Zukunftsforschung dagegen im außeruniversitären Raum. Ein Beispiel ist das Berliner Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), das sich durch öffentliche und privatwirtschaftliche Förderaufträge finanziert. Gut im Geschäft sind auch private Institute, die sogenannte Trendforschung anbieten, etwa für die Prognose von Konsummärkten.
Während die akademischen Zukunftswissenschaftler um die Trendforscher lieber einen Bogen machen, ist es bei den Studenten eher umgekehrt. Nicht wenige Absolventen des FU-Zukunftsstudiums haben Jobs in Consulting-Agenturen gefunden, die für ihre Kunden professionelle Zukunftsschau betreiben.
Großes Interesse in der Industrie
„Der Studiengang hat mich befähigt, mit Möglichkeitsräumen zu arbeiten“, sagt Jana Wichmann, die heute bei dem Berliner Beratungsunternehmen Impact Solutions beschäftigt ist. „Entscheidend ist die Methodik, um Handlungsfelder zu identifizieren.“ Das interessiert etwa Finanzdienstleister, Automobilfirmen und Software-Hersteller. Mit dem Zukunftswissen aus der Uni baute die Firma im kommenden November ein „Urban Innovation and Leadership Lab“ auf, das junge kreative „Changemaker“ nach Berlin ziehen soll. „Deutschland ist in dieser Hinsicht noch etwas hinterher, weil unsere Innovationskultur rückständig ist“, urteilt Zukunftsexpertin Wichmann. „Aber es wird aufgeholt“.
Zukunft ist wertvoll: Das Master-Studium der FU ist ein Bezahlstudiengang, das 1.300 Euro im Semester kostet. Für alle zwei Jahre 5.200 Euro. Auch der Soziologe Julian Kattinger hat den Betrag investiert und sich danach als freiberuflicher Berater selbstständig gemacht. Er arbeitet jetzt hauptsächlich für Wirtschaftsverbände und andere privatwirtschaftliche Auftraggeber. „Die wollen wissen, was in den nächsten 10 bis 15 Jahren auf sie zukommt“.
Kattinger erklärt dann, dass es keinen einzigen Weg in die Zukunft gibt, sondern sich unterschiedliche „Möglichkeitsräume“ eröffnen, die sich auch mit eigenem Zutun aktiv gestalten lassen. „Für diese Expertisen gibt es einen großen Markt“, hat der FU-Absolvent festgestellt. „Auch weil es immer häufiger zu disruptiven Veränderungen kommt, auf die reagiert werden muss“.
Möbel aus dem 3-D-Drucker
Auch bei der öffentlichen Hand wächst erkennbar das Zukunftsinteresse. Im Rahmen eines groß angelegten „Foresight“-Prozesses des Bundesforschungsministeriums hat jetzt das VDI Technologiezentrum in Düsseldorf eine dreibändige Studie über die Welt im Jahr 2030 vorgelegt. Das könnte eine Zeit sein, so eines der Szenarien, in der Möbelhersteller statt Schrankwänden ihren Kunden nur noch Anleitungen und Rohmaterial anbieten, damit sie ihre Möbel mit ihrem 3-D-Drucker selbst bauen und gestalten können. Untersucht wurden elf Technologiefelder, darunter Biotechnologie, Dienstleistungen, Energie, Gesundheit und Ernährung, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Mobilität und Produktion.
Wichtig ist aus Sicht von VDI-Projektleiter Axel Zweck, die Trenderkennung mit einer Bewertung zu verbinden. „Es reicht also nicht aus, zukünftige Entwicklungen einfach nur zu kennen, sondern es kommt auf die Bedeutung und die Wirkungen dieser Entwicklungen für den jeweiligen Adressaten an“, betont Zweck.
Vielleicht kommt auf diesem Wege der Praxisnachfrage die Zukunftswissenschaft in den Hochschulen dann doch wieder zu stärkerer Anerkennung. In einer eigenen Zukunftsschau hat das Team von Reinhold Popp die Perspektive des Fachs eruiert. In einer repräsentativen Befragung von 4.000 Personen waren immerhin 68 Prozent zuversichtlich, dass in 20 Jahren an vielen Universitäten nicht nur Geschichte, sondern auch Zukunftswissenschaft studiert werden kann.
* Anmerkung: In einer ersten Fassung des Textes war zu lesen, dass Popps Salzburger Institut nach seiner Emeritierung abgewickelt wurde. Das ist nicht richtig. Das Zentrum für Zukunftsstudien an der FH Salzburg besteht weiterhin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz