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Zukunft der Kurden in SyrienTraum und Trauma

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Was wird aus den Kurden nach dem Sturz Assads? Die neuen Machthaber in Damaskus sind gegen ihre Autonomiepläne, PKK-Führer Öcalan könnte helfen.

Leider könnte es sich wiederholen, daß die Kurden vom Westen fallen gelassen werden Foto: Orhan Qereman /reuters

Am Ende sind es immer die Kurden, die fallen gelassen werden.“ Dieser Satz bezeichnet ein kurdisches Trauma, das sich durch schlechte Erfahrungen mit ihren Alliierten seit dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hat. Es scheint so, als wenn den syrischen Kurden dieses Schicksal nun erneut blühen könnte.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, durch den Erfolg seiner Partner vom HTS massiv gestärkt, will nämlich die Situation nutzen, um die Kurdenfrage in Syrien in seinem Sinne zu regeln. Er droht mit einem großangelegten militärischen Angriff, aber es gibt auch Verhandlungen, die vielleicht eine friedliche Lösung ermöglichen.

Im Augenblick stehen nur noch 2.000 US-amerikanische Soldaten zwischen einem türkischen Einmarsch in Nordostsyrien und den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Der designierte US-Präsident Donald Trump hat bereits erklärt, wie sehr er Erdoğan für seine erfolgreiche „Übernahme“ Syriens bewundert: Die USA könnten die syrischen Kurden tatsächlich bald fallen lassen.

Die Kurden sind in Syrien praktisch seit dem Ende des Osmanischen Reiches eine unerwünschte Minderheit. Weil sie ethnisch keine Araber sind, hatten sie nie eine legitime Vertretung in Damaskus. Ein großer Teil gilt als staatenlos, weil ihnen nach einer Volkszählung 1962 ihre Papiere abgenommen wurden. Begründung: Sie seien illegal aus der Türkei eingewandert.

Die Anhänger Öcalans setzten sich durch

Als der Bürgerkrieg in Syrien 2011 begann, hielten die Kurden sich heraus. Sie trauten weder dem Assad-Regime noch der überwiegend sunnitisch-islamistischen Opposition. Politisch waren sie gespalten in Anhänger der türkisch-kurdischen PKK und deren Gründer Abdullah Öcalan sowie in Anhänger der im Nordirak dominierenden Partei des Barsani-Clans. Nach und nach setzten sich jedoch die Anhänger Öcalans durch. Die Stunde der PKK-nahen Partei PYD und ihres bewaffneten Arms YPG kam, als die Kurden wider Willen doch in den Bürgerkrieg hineingezogen wurden: Es war der „Islamische Staat“ (IS), der auf dem Höhepunkt seiner Macht die kurdische Stadt Kobanê angriff.

Mit Unterstützung der US-Luftwaffe gelang es der YPG im Winter 2015/16, den IS aus Kobanê wieder zu vertreiben. Aus der Verteidigung gegen den IS wurde dann der große Feldzug zur Vernichtung des IS in Syrien. Während die USA aus der Luft angriffen, formten sie mit Militärberatern eine Bodentruppe, die sogenannten Democratic Syrian Forces (DSF), in denen zwar auch arabische Gruppen vertreten waren, die kurdische YPG aber klar dominierte. In diesem Kampf gegen den IS konnte die DSF mit US-Unterstützung fast das gesamte Gebiet nordöstlich des Euphrats unter ihre Kontrolle bringen, einschließlich der syrischen Ölfelder.

Offiziell fordert Erdoğan einen Rückzug der YPG-Milizen aus einer 30 Kilometer tiefen Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze. Diese soll dann von der Türkei kontrolliert werden, genauer von mit ihr verbündeten syrischen Milizen. Hier liegen zwei der drei wichtigsten kurdischen Städte: Kobanê und Qamischli. Neben den USA und der Türkei wird aber die neue syrische Regierung in Damaskus eine entscheidende Rolle bei der Neuordnung des Landes spielen.

Bereits vor wenigen Tagen hat der zweite Mann im HTS, Militärführer Hassan al-Hamwi, erklärt, in Zukunft würden natürlich auch die heute von den Kurden kontrollierten Gebiete unter den Machtbereich der Regierung fallen. Eine autonome Kurdische Region sehe er nicht, „Syrien wird nicht geteilt.“ In diesem Sinne will das HTS auch alle Milizen einschließlich der eigenen auflösen und eine integrierte syrische Armee aufbauen. Erfahrungen aus dem Libanon und dem Irak zeigen, dass das schwierig werden könnte.

Warum nicht einen kurdischen Staat formen?

Für die Kurden stellt sich zunächst die Frage, ob sie überhaupt vollwertige syrische Staatsbürger werden und welche kulturellen Rechte ihnen zustehen. Eine in vielen Köpfen präsente Frage: Wenn schon eine Neuordnung ansteht, warum dann nicht einen kurdischen Staat aus den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten in Syrien, der Türkei, dem Irak und dem Iran formen?

Da die Kurden aber wissen, dass sie damit alle vier Staaten gegen sich aufbringen und auch international keine Unterstützung erwarten könnten, wollen sie wenigstens weitgehende Autonomie. Vorbild ist das kurdische Autonomiegebiet im Nordirak. Wir sehen im Irak, was das bedeutet: Einen schwachen Zentralstaat, in dem die Kurden im Norden und die schiitischen Milizen im Süden machen, was sie wollen und die Regierung in Bagdad wenig zu sagen hat. Die Alternative ist vielerorts im Nahen Osten bislang ein starker Zentralstaat, der seine Ansprüche repressiv durchsetzt.

Syrien hätte jetzt die Möglichkeit, etwas Neues zu versuchen. Der politischen, ethnischen und religiösen Situation des Landes entsprechend würde sich ein föderaler Staat mit einem fairen Interessenausgleich zwischen allen Landesteilen anbieten. Das wäre für diese Region zwar ein Novum, ist aber immerhin denkbar.

Erdoğan sondiert beim PKK-Gründer, ob er sich für ein Ende des bewaffneten Kampfes der Kurden einsetzen will

Das Land ist nach 13 Jahren Krieg so erschöpft, dass niemand mehr kämpfen will. Viele Menschen sorgen sich um die nächste Mahlzeit und brauchen dringend Hilfe. Der Versuch, ein inklusives, nicht repressives Syrien aufzubauen, würde von der Internationalen Gemeinschaft sicher auch materiell unterstützt werden. Geld für den Wiederaufbau würde fließen, von dem auch die Nachbarländer, speziell die Türkei, profitieren könnten. Eventuell könnte auch die Erdoğan-Regierung eine solche Entwicklung unterstützen.

Eine Rolle könnte dabei Öcalan spielen. Hinter den Kulissen lässt Erdoğan seit Wochen bei dem seit 25 Jahren inhaftierten Gründer der PKK sondieren, ob er bereit ist, sich für ein Ende des bewaffneten Kampfes der Kurden einzusetzen. Öcalan hat nicht nur unter den Kurden in der Türkei, sondern auch in Syrien großen Einfluss. Die Kurden bekämen dann zwar keinen eigenen Staat, aber wichtige Mitspracherechte.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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7 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Frau Baerbocks voreilige und unterwürfige Übernahme der türkischen Forderung nach Entwaffnung der YPG, ist an Naivität kaum zu überbieten. Die erneute Vertreibung und Unterdrückung der Kurden durch die Türkei und seiner Proxis wäre sicher. Auch mit Blick auf den Kampf gegen den IS wäre dies ein Desaster. Die Kurden haben aber wohl keine andere Wahl, als die Gefahr vor dem IS gegenüber den USA , der HTS und dem Westen als starkes Argument gegen ihre eigene Entwaffnung zu betonen. Gleichzeitig müssen sie gegenüber der HTS einer Integration in einen geeinten syrischen föderalistischen demokratischen Vielvölkerstaat zustimmen. Das alles setzt langfristige Verhandlungen voraus. Wer, wie Baerbock, die türkische Strategie kopiert, zeigt eine beschämende politische Kurzsichtigkeit deutscher Außenpolitik. Die Quittung für dieses Versagen sollte sich bei der nächsten Bundestagswahl im Ergebnis niederschlagen.

  • "Syrien hätte jetzt die Möglichkeit, etwas Neues zu versuchen. Der politischen, ethnischen und religiösen Situation des Landes entsprechend würde sich ein föderaler Staat mit einem fairen Interessenausgleich zwischen allen Landesteilen anbieten. Das wäre für diese Region zwar ein Novum, ist aber immerhin denkbar."



    Immerhin denkbar? In welcher Utopie bitte???



    Der Artikel führt ja sehr gut auf wie die politischen Realitäten in der Region aussehen.



    Kurdistan, in welcher Form auch immer, ist völlig unrealistisch - da müssten schon zeitgleich die Türkei und der Iran implodieren, andernfalls würden diese beiden Staaten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln das verhindern. Der Irak übrigens auch, wäre er nicht so schwach - auch das wird im Artikel kurz angesprochen.



    Selbst ein Autonomiegebiet nach irakischem Vorbild ist nicht realistisch - die Türkei wird diesen 'Fehler' (aus ihrer Sicht) kein zweites Mal machen. Wer auch nur eine Sekunde glaubt, Erdoğan würde einen kurdischen Staat, ein Autonomiegebiet, egal was, an seiner Grenze dulden, hat sich völlig von der Realität verabschiedet. Die türkischen Truppen stehen nicht umsonst in Nordsyrien...

  • "... konnte die DSF mit US-Unterstützung fast das gesamte Gebiet nordöstlich des Euphrats unter ihre Kontrolle bringen, einschließlich der syrischen Ölfelder."



    Es geht auch hier um handfeste Interessen im Verteilungskampf.



    2018:



    "Großmächte kämpfen in Syrien um globales Energie-Drehkreuz



    Im Syrien-Krieg geht es um Öl- und Gasvorkommen, die ausgebeutet werden können. Die Großmächte wollen ihren eigenen Energie-Konzernen den Zugang zu diesen Ressourcen sichern."



    Quelle



    deutsche-wirtschafts-nachrichten.de



    2018 stand ebenfalls noch in den Schlagzeilen, dass Russland sich Förderrechte für syrisches Öl und Gas gesichert hat, um in der Region seinen Einfluss zu stärken.



    Vor einigen Jahrzehnten las ich, dass die einseitig oder konzertiert "geschürte Angst" vor einem geeinten Kurdistan daher so realistisch sei, weil den Kurden die Errichtung eines eigenen funktionierenden Staates in kurzer Zeit praktisch zugetraut werden kann.



    Offensichtlich verfügen sie über Netzwerk, Ressourcen und Logistik.

  • Für Kurden in Syrien muss die Befreiung von Assad ein zweites Armageddon sein.



    Erst dürfen sie gegen den IS für alle die Kohlen aus dem Feuer holen.



    Jetzt werden sie wieder von allen fallen gelassen oder schlimmer, u.a. von Erdogan bekämpft.



    Traurig!

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      "oder schlimmer, u.a. von Erdogan bekämpft."



      /



      2017 bei spiegel.de zur Abstimmung im Irak:



      Ein Anklang an Kolonialismus und



      "Referendum im Irak



      Kurden stimmen ab - Erdogan droht



      Iraks Kurden stimmen über ihre Unabhängigkeit ab - und Erdogan verschärft seine Drohungen. Der türkische Präsident schloss die Grenze und warnte, er könne die Öl-Pipelines kappen."



      Im Mai 2021 in der taz zu Neo-Osmanismus



      "Imperialistische Bestrebungen der Türkei



      Ankara auf Expansionskurs



      Gastkommentar von Joseph Croitoru



      Die Türkei macht Ernst mit Ansprüchen auf frühere Gebiete des Osmanischen Reichs. Besonders deutlich werden die Großmachtvisionen in Nordsyrien."



      Weiter dort:



      "Ihr erklärtes Ziel ist, geflüchtete, vor allem arabisch-sunnitische Syrer in den besetzten Grenzgebieten anzusiedeln – wohlgemerkt bei gleichzeitiger Vertreibung und Umsiedlung ansässiger Kurden und Jesiden. Und die sollen ganz offensichtlich im Sinne der Religionspolitik der AKP-Regierung erzogen werden."



      Und ebenfalls schon vor Tagen taz



      taz.de/Tuerkische-...n-Syrien/!6052144/



      /



      Interessengeleitete Politik im panturkischen Nationalismus als Zündfunke für eine multinationale und multiethnische Eskalation?

      • @Martin Rees:

        Wobei anzumerken ist, dass auch die säkularen Vorgängerregierungen von Erdogans AKP (u.a. die über Jahrzehnte regierende CHP) immer einen restriktiven antikurdischen Kurs gefahren sind, gegenüber den Kurden im eigenen Land, aber auch denen in den Nachbarländern Irak und Syrien.



        Rojava ist eben ein permanenter Stachel im Fleisch des türkischen Nationalismus (sei der religiös oder säkular geprägt) und Erdogan wird nicht ruhen, bis diese (vermeintliche) Gefahr für die nationale Identität der Türkei beseitigt ist.



        Die türkische NATO-Mitgliedschaft, die neuen Machthaber in Damaskus und nicht zuletzt die drohende Präsidentschaft Trumps in den Staaten geben ihm dazu die nötige Beinfreiheit.



        Die Tragik für die Kurden bestand immer darin, auf vier Nationalstaaten aufgeteilt bzw. geopolitisch am falschen Ort beheimatet zu sein.

      • @Martin Rees:

        Danke für die detaillierten Zusatzinfos.



        Frohes Fest?