Zukunft Die Jungen ziehen weg, die Alten bleiben. Nur wenige Dörfer schaffen den Generationenwechsel. Der Demograf Manuel Slupina erforscht, wie er klappt: „Es gibt da so eine Anpacker-Mentalität“
Er wurde 1979 in Köln geboren und studierte dort Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeografie. Seit 2011 arbeitet er für das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, er leitet das Ressort Stadt & Land.
Interview Philipp Daum
taz.am wochenende: Herr Slupina, sterben die Dörfer in Deutschland?
Manuel Slupina: So dramatisch würde ich das nicht ausdrücken. Auf dem Land zeigen sich sehr unterschiedliche Entwicklungen. Dörfer, die nah an Ballungszentren liegen, stehen gut da. Da können die Leute im Grünen wohnen, sind aber trotzdem schnell in der Großstadt zum Arbeiten. Diese Regionen – im Speckgürtel von Berlin, im Süden Deutschlands, das Umfeld von Köln oder Hamburg – werden sich demografisch günstig entwickeln. Schwieriger wird es für die entlegenen Regionen. Von Berlin aus geguckt: alles, was weiter als 40, 50 Kilometer weg ist. Dörfer dort haben große Probleme, ihre Einwohnerzahl zu halten.
Warum?
Überall auf dem Land ziehen junge Leute weg, sie gehen zum Studieren oder Arbeiten in die Städte. Das sind die sogenannten Bildungswanderer. Das ist normal. Wer sich für das Land begeistern kann, sind die klassischen „Familienwanderer“, Leute im Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Zu großen Teilen ziehen sie in die Speckgürtel, einige von ihnen aber suchen sich ein entlegenes Dorf. Der Zuzug dort kann den Wegzug der jüngeren Leute aber nicht ausgleichen. Für viele sind die Wege zur Schule, zum Einkaufen, zum Sportverein einfach zu weit. Unterm Schnitt bleibt ein Minus.
Haben Dörfer in entlegenen Regionen dann einfach Pech gehabt?
Es gibt auch in solchen Gegenden einzelne Orte der Stabilität. Besonders wichtig ist das zivilgesellschaftliche Engagement. Dörfer, in denen es noch ein lebendiges Vereinsleben gibt, wo sich viele Leute zusammentun, wo neue Versorgungsformen kreiert werden und dadurch die Lebensqualität erhalten wird, entwickeln sich demografisch günstiger als jene, wo die Dorfgemeinschaft schon eingeschlafen ist.
Sie haben sich in einer Studie das Emsland genauer angeschaut, im westlichen Niedersachsen. Das Emsland ist eine dünn besiedelte Region, weit weg von Städten. Eigentlich ein klarer Fall. Oder?
Das Emsland weist alle Merkmale auf, die für eine demografisch schrumpfende Region sprechen. Es wächst aber. Es gibt dort engagierte Dorfgemeinschaften, die die nötige Unterstützung bekommen und so ganz viele Projekte anstoßen können. Das erzeugt eine Bindewirkung: Junge Emsländer, die für das Studium oder die Arbeit wegziehen, kommen irgendwann wieder zurück. Diese Region wird durch den Erfolg, den sie erlebt, in ihrem Engagement bestätigt.
Was genau macht das Emsland richtig?
Die persönlichen Beziehungen der Dorfbewohner sind sehr stark. Die Leute haben gute informelle Netzwerke. Wenn sie Projekte anstoßen wollen, finden sie schnell Mitstreiter. Die Emsländer organisieren sich in vielen Vereinen; viele sind in mehreren gleichzeitig. Auf Gemeindeebene spielt die katholische Kirche eine große Rolle. Sie ist nicht nur religiöser Sinnstifter, sondern organisiert viele Freizeiten, engagiert sich in der Pflege und stellt Vereinen Räume zur Verfügung. Was noch besonders ist: In allen 19 Kommunen des Emslands gibt es Ansprechpartner für Ehrenamtliche. Wo kann ich Fördermittel beantragen? Welche Qualifizierungsangebote bietet der Landkreis? Solche Fragen werden da beantwortet.
In welchen Projekten organisieren sich die Ehrenamtlichen?
Es gibt einen mobilen Einkaufswagen: ein Freiwilliger fährt ältere Nachbarn zum Einkaufen oder zum Arzt. Der Bürgerbusverein hat einen Bus mit neun Sitzen gekauft, er fährt von Dorf zu Dorf und sammelt die Leute ein. Das schließt Lücken im Nahverkehr. Es gibt Zukunftsbündnisse, in denen die Leute überlegen: Was braucht unser Ort? Brauchen wir einen Jugendtreff? Was können wir für Ältere tun? Dann wird zum Beispiel ein Dorfplatz erneuert. Oder man gründet ein Mehrgenerationenhaus mit Jugendraum, Mittagstisch für Grundschüler und Sonntagscafé – damit man wieder einen Ort hat, an dem sich alle treffen können.
Sie schreiben, dass viele Regionen erfolgreich sind, die früher sehr arm waren: der Westen von Niedersachsen, Teile von Bayern und Baden-Württemberg. Warum ist das so?
Es gibt da so eine Anpacker-Mentalität, die haben wir auch im Emsland bemerkt. Die Leute sagen: Wir mussten unsere Dinge schon immer selbst regeln. Wir haben dort ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Dorf gefunden.
Ob es einem Dorf gut geht, hat also vor allem mit dem Selbstbild zu tun?
Es hat auch damit zu tun. Die Dorfgemeinschaft braucht aber auch Unterstützung von außen, die richtigen Rahmenbedingungen. Das funktioniert im Emsland gut.
In Ihrer Studie betonen Sie, dass das Emsland eine katholische Gegend im protestantischen Niedersachsen ist. Sind katholische Dörfer erfolgreicher?
Das bezweifle ich. Die Funktion der Kirche kann auch von anderen Institutionen erfüllt werden. Dass es viele ländliche Regionen in Ostdeutschland schwer haben, hat übrigens kaum etwas damit zu tun, dass sie weniger religiös sind. Ostdeutschland hat eine besondere demografische Vergangenheit. Nach der Wende sind 1,8 Millionen Menschen in den Westen gegangen, zusätzlich waren die Geburtenzahlen sehr gering. Jetzt erleben wir das demografische Echo von damals: Eine halbierte Generation kommt ins Familiengründungsalter. Die gute Nachricht ist: Die Abwanderung in den Westen ist gestoppt, die neuen Bundesländer erholen sich langsam. Aber nur ein Bruchteil der ostdeutschen Gemeinden profitiert davon. Leipzig als Boomstadt ist ein Paradebeispiel. Die ländlichen Regionen aber haben es schwer.
Wie können entlegene Regionen das Grundproblem lösen, dass viele Arbeitsplätze so weit weg sind?
Das wird schwierig. Es ist nun einmal so, dass immer mehr Leute einen höheren Schulabschluss haben, sich auf den Weg zum Studium in die Großstädte machen und sich dann einen Job suchen, der ihren Qualifikationen entspricht. In einer Wissensgesellschaft wird das eher in der Großstadt sein. Was entlegene Dörfer tun können: Sie können versuchen, die Lebensqualität so weit wie möglich zu erhalten. Das hängt von neuen, kreativen Ansätzen ab und von bürgerlichem Engagement. Und sie können versuchen, jungen Familien ein attraktives Umfeld zu bieten. Dass es Kitas gibt, dass die Grundschule nicht zu weit entfernt ist.
Können Glasfaserkabel das Dorf retten?
Das wird ja schon länger diskutiert. Man hofft, dass die Leute dann von zu Hause arbeiten können oder sich Unternehmen ansiedeln. Ich weiß nicht, ob sich diese Hoffnung bewahrheiten wird. Städte bieten ja mehr als nur Arbeitsplätze. Das urbane Umfeld ist einfach attraktiv.
Müssen wir also mit Landflucht leben?
Ja. Momentan kann man keine Trendwende absehen. Einige Dörfer werden es nicht schaffen. Da müssen wir uns fragen: Wie lässt sich die Lebensqualität vor allem der Älteren, die dort in der Mehrheit sind, so gut wie möglich erhalten? Man muss neue Sachen ausprobieren: Ärzte mit einer Zweigpraxis auf dem Land, in der sie zwei Tage die Woche arbeiten. Oder Telemedizin. Oder Ärzte, die von Dorf zu Dorf fahren und die Leute zu Hause versorgen. Man kann die demografische Entwicklung nicht aufhalten, nur eine gewisse Versorgungsqualität aufrechterhalten.
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