: Ein Trend will Abstand
Laufen, schweben, stehen bleiben. In Zeiten tiefer Ratlosigkeit ist sich auch die Mode nicht sicher, wie es weitergehen kann
Von Elisabeth Wagner
Die Dinge anfassen. Auf dem schmutzigen Boden der Tatsachen laufen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass der aktuelle Trend der überlangen Ärmel und bodenschleifenden Hosen viel über den Kontakt zur Welt und vor allem über dessen Vermeidung erzählt. Etwas will heraus aus der Gegenwart, will die eigenen Hände und Füße nicht sehen, will Abstand und träumen, die eigene Hose könnte eine königliche Schleppe sein.
Unangreifbar, ein bisschen patzig und verwöhnt. So schwebt dieser Look durch die Gegenwart. Mit dem Material wird nicht gegeizt. Dazu die Hauptrollen, die prominent besetzt sind: Hände und Füße, die Körperteile des Handelns, der großen und kleinen Schritte, spielen mit dem eigenen Verschwinden. Die Maschinerie der Deutung kann gar nicht anders, als anzuspringen. Aber das gehört dazu, denn alles an diesem Look will – vielleicht sogar lieber als zu gefallen – gelesen werden.
Da wäre die Anschmiegsamkeit. Die auf Fernwirkung zielende Silhouette. Da ist der angenehm selbstvergewissernde tiefe Schwerpunkt, den die Stofffülle an Handgelenken und Füßen setzt. Wie ein Schmuckstück kann sich das anfühlen, wie eine Aufforderung zum langsamen Tanz oder der Beginn einer Umarmung. Justin Bieber muss das nicht erst absegnen. Und auch Kendall Jenner nicht, die alles immer zuerst weiß und am besten kann, und die in einem ihre Hände restlos ausblendenden Hemd, bereits 2019 maximale Trendstärke signalisierte.
Es hängt mit der Innenseite des Stoffes zusammen, auf die sich vieles schreiben lässt, was ansonsten dem Weichzeichner zum Opfer fällt: Anflüge von Traurigkeit, kleine Kränkungen oder Fragen an das eigene Körperbild. Die Erinnerung daran, die Ärmel der Pullis nach jeder Wäsche lang gezogen zu haben, sodass sie zumindest für kurze Zeit „lang genug“ sein würden. In einem Pullover der aktuellen Mode erübrigt sich das. Die Norm des Nicht-zu-groß-und-nicht-zu-klein verliert an Macht und wird mit Oversize überschrieben.
Die Idee ist vermutlich so alt wie die Mode selbst. Oversize, das ist die Größe über der Größe, niemals um Antwort verlegen. Sie kommt von der Überbietung her, das heißt, egal, wen sie trifft, ist sie dem Gleichstand um mindestens einen Schritt voraus. Eine chronische Siegerin also, eine Königin der großen Leinwand, unter deren Dominanz der Charme, das Je-ne-sais-quoi allerdings manchmal leiden. Ein anderer Begriff ist, nicht nur für diesen Trend, produktiver.
Gemeint ist die Position des Zwischenraumes, die radikal desinteressiert an jeder Vereinnahmung ist. In der Mode von Rei Kawakubo oder Yohji Yamamoto wurde sie Anfang der 1980er Jahre epochemachend formuliert, sehr zur Verblüffung des westlichen Publikums. Unverschämtheiten wie „Hiroshima Chic“ und „post atomic“ waren zu lesen. Die Raffinesse jener Mode, ihre verletzte Schönheit und Augenblicksverliebtheit waren zunächst völlig unverständlich.
Sinnlich und zugleich ein Raum für Gedanken: Der Zwischenraum lässt Platz für das Nichtabgeschlossene, für die Bewegung des Körpers und – wenn man so will – die Geheimnisse des Tagebuchs, die im Korsett der Repräsentation nicht einmal laut zu atmen wagen.
Die belgische Virtuosin Ann Demeulemeester, in deren Mode Extralängen ständig vorkommen, kennt ihn gut, den Zwischenraum. Ihre lang ausgreifenden, poesiebegabten Arme spielen darin selbstvergessen das Spiel der Verführung. Mit den heftigen Umarmungen des Oversize hat das nichts zu tun. Auch bei Martin Margiela nicht, der in der Freiheit des Zwischenraums ganze Szenen arrangiert.
Dazu ein Beispiel: ein berühmtes Jackett aus der Herbst- und Winterkollektion 2005/2006. Es tritt als Kapuzenjacke in Erscheinung, als Dekonstruktion eines Klassikers der Herrenmode also, wobei das viel zu theoretisch klingt. Eingefangen ist nämlich ein Augenblick, eine Situation. Man kann sich vorstellen, jemand wird von einem Gewitterschauer überrascht. Er hat keinen Schirm dabei und zieht sich, während er im Regen seinem Ziel entgegenläuft, schützend das Jackett über den Kopf.
Diese Margiela-Jacke ist übrigens im vergangenen Winter als Zitat wieder aufgetaucht. Beim Label Coperni wurde sie gleich mehrfach zitiert, und zwar in maximal geglätteter Gestalt. Die Jacke ist jetzt oversize. Vergessen ist die Zartheit des Augenblicks, die huschende Geste, die sich bei Margiela in den Falten des Stoffes eingelassen hatte. Statt des Regenschauers ein straffer Imperativ: „Sieh mich an!“
„Klar, ich sehe dich. Wie könnte ich nicht.“ Die Antwort gibt sich wie von selbst. Doch wie immer, wenn die Aufmerksamkeitsökonomie einen anschreit und verlangt, dass man nirgendwo sonst hinschauen soll, bleibt ein trauriges Gefühl. Was wird aus der eher leisen Frage, ob die überbordenden Säume abseits der großen Leinwand nicht auch mit der romantischen Sehnsucht zu tun haben, sich selbst zu entkommen?
Interessanterweise tun sich auch die Modejournale halbwegs schwer. Unwiderstehlich lässig sei dieser Trend, obwohl oder vielleicht auch weil jeder Schritt die Hose immer nur schmutziger und kaputter macht. Gedankt wird es jedenfalls mit endlos langen Beinen. So weit, so vertraut. Dann aber kommt eine Stelle, die schon darum eine gewisse Irritation verrät, weil sie keinerlei ästhetischen Vorteil verspricht. Superlange Ärmel können vor unhygienischen Türklinken schützen, heißt es vielmehr. Klingt praktisch, harmlos aber ist das Türklinken-Argument nicht. Alte, ständische Kleidercodes und ihre Privilegien spiegeln sich wieder. Derbe Arbeit braucht Arme und Hände. Weshalb die mittelalterliche Houppelande umso vornehmer galt, je unauffindbarer ihre tütenförmigen Ärmel die Hände für jede Zumutung der Wirklichkeit machten.
Unruhe ist spürbar, Eskapismus und Neugier. Abseits des Mainstreams drückt sich das als Lust an der Zuspitzung aus. So zählt das Trendmagazin View „extreme Körperproportionen“ zu den wichtigsten Auffälligkeiten der aktuellen Mode und zeigte in seiner Projektion für den Winter 23/24 eine Arbeit der Graduiertenklasse 2022 des London College of Fashion: einen violetten, asymmetrischen Abendmantel, dessen rechte Schulter dramatisch erhöht ist und dessen extravagante Armlänge weit über die Hand bis auf den Boden reicht. Wieder winkt die mittelalterliche Houppelande. Wie man überhaupt sagen muss, dass die sonderbaren, fantastischen Formen der Vergangenheit für das Nachdenken über Gegenwart und Zukunft gerade ausgesprochen nützlich sind.
Zum Schluss deshalb noch ein Beispiel, eine Strick-Kombination des Londoner Labels Jordanluca: Besonders toll ist die Hose, die Anleihen bei einer Nagabakama, einer Zeremonienhose der Samurai und des traditionellen japanischen Theaters, macht. Sie ist so lang, dass Gehen im Grunde unmöglich ist. Ein bisschen Schlurfen und Schreiten, mehr ist nicht drin. Auf Partys könnte man gut so herumstehen. Das jedenfalls sagt der eskapistische Teil der Deutung. Der andere, neugierige Teil hat mit einem dramatischen Stillstand zu tun. Die Mode leiht sich das Paradoxon vom Kabuki-Theater aus. Die Szene verharrt, bleibt stehen, wenn der emotionale Aufruhr am intensivsten ist. Ein Gefühl kommt an sein eigenes Ende. Auf der Bühne wenigstens ist das ein Moment der Erkenntnis.
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