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Helsinki Citizens-Assembly in PragZivile Ordnung für Europa?

■ Die europäische Nachkriegsordnung der beiden Militärblöcke ist zerbrochen. Bürgerinitiativen und Dissidentengruppen gründeten eine „Bürgerversammlung“ für eine neue zivile europäische Gesellschaft.

Gut 700 Delegierte aus 35 KSZE-Staaten waren am Wochenende zur Gründung der „Helsinki Citizens-Assembly“ (HCA) nach Prag gekommen. Vertreter von Bürgerinitiativen und ehemaligen osteuropäischen Dissidentengruppen aus KSZE-Ländern wollen mit dieser Institution für die Verwirklichung der in Helsinki verabschiedeten Schlußerklärung der KSZE-Konferenz eintreten. Zur Eröffnung sprach der tschechoslowakische Staatspräsident Vaclav Havel über die Schwierigkeiten der Regimekritiker an der Macht, das alte totalitäre System durch ein neues, demokratisches zu ersetzen.

Der erste und zugleich faszinierendste Eindruck von der Citizens Assembly in Prag: Die Schauplätze der Auseinandersetzung um eine Gesellschaft der Bürger und um die Zivilisierung der Staatsgewalt verschieben sich nach Osten. In den ausladenden Wandelhallen und Tagungsräumen des obecni dum, des Bürgerhauses, mit dem die Prager Tschechen noch unter dem Habsburgerreich ihr neues Selbstbewußtsein feierten, mischen sich bulgarische, ukrainische, russische Sprachfetzen in das Konferenz-Pidgin-Englisch. Man kann — eine absolute Premiere — miterleben, wie Vertreter schottischer und ukrainischer nationaler Bewegungen sich gemeinsam des Verdachts erwehren, ihr Kampf um Selbstbestimmung führe in den Sumpf des reaktionären Nationalismus. Die angereisten Westler, bewährte Schlachtgrößen der Friedensbewegung und manch seriöse Herrschaften aus internationalen Organisationen, erhalten eine Lektion in Sachen historischer Ungleichzeitigkeit. Im Westen geht der Zug weg vom Nationalstaat zu übernationalen Zusammenschlüssen. Im Osten geht er weg von einer erzwungenen Supranationalität zum Nationalstaat, der als befreiend und gesellschaftlich mobilisierend empfunden wird. Wie soll das zusammengehen? Nur in einem demokratisch integrierten Europa, sagt Mient Jan Faber, einer der Inspiratoren der HCA, und nur mit den Mitteln der civil society. Aber was ist das, noch dazu im europäischen Rahmen?

Die Ostmitteleuropäer sind Spezialisten in diesem Metier, schließlich war die civil society ihr Kampfbegriff gegen den Staat der Nomenklatura. Jetzt sind die outcasts an der Macht und guter Rat ist teuer. Aus Untergrundblättchen in Dutzendauflage sind Massenzeitungen geworden, wer im Hinterzimmer über Plato las, ist jetzt Universitätsrektor. Die „parallele Polis“ ist in die offizielle übergegangen.

Aber was ist mit der wirklichen Gesellschaft? Sie scheint sich, darin war man sich in mehreren, kontrovers geführten Plenumsdiskussionen einig, unaufhaltsam nach rechts zu entwickeln, in Richtung Intoleranz, Autoritarismus, Kampf aller gegen alle. Das „Bürgerforum“, führende politisch-gesellschaftliche Kraft in der CSFR, diente in der Diskussion als Beispiel. Soeben hat es Finanzminister Vaclav Klaus zum Vorsitzenden gewählt, einen konsequenten Thatcheristen, dessen Credo lautet: In ökonomischen Entscheidungsprozessen hat die Politik nichts zu suchen. Wird das Bürgerforum zu einem Machtapparat, der gegen gesellschaftliche Selbstorganisation steht?

Jaroslav Sabata verteidigte die Zugehörigkeit der „politischen“ zur „zivilen“ Gesellschaft. Demgegenüber beharrte Tomas Mastnak darauf, daß es zwischen dem Ziel des demokratischen Rechtsstaats und der Demokratisierung der Gesellschaft immer einen Unterschied geben wird. Die Gesellschaft müsse sich selbst demokratisieren und zivilisieren. Hinter der Kontroverse stand auch die praktische Frage, als was die HCA sich konstituieren soll: Als Netzwerk von Bürgerinitiativen, „Ombuds“-Mann für Menschen- und Minderheitenrechte? Oder als anerkannte Institution neben der KSZE, die allerdings in der Gefahr wäre, ein bürokratischer Apparat mehr zu sein?

Eines war klar: Das Büro der HCA wird in Prag sein.

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