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Ziel Kanada als Notnagel

■ Die Calics sitzen auf gepackten Koffern. Wie viele Kriegsflüchtlinge würden sie lieber in Bremen bleiben – als irgendwo anders ganz von vorn anzufangen. Aber sie müssen weg

Familie Calic wandert aus. Nach Kanada. Aber in der Neuen Welt erwartet die Familie nichts Großartiges. „Kanada? Seit zwei Jahren lebt dort meine Schwester“, sagt Nina Calic fast tonlos. Die Schwester hat kanadische Bürgen gefunden, damit die Verwandten aus Bremen nachkommen können. Die bringen wenig mit außer der Hoffnung, endlich ein neues Leben anzufangen .

Nur zwei Koffer wird jedes Mitglied der Familie Calic am 21. April zum Bremer Hauptbahnhof tragen. Von dort geht der Zug nach Frankfurt – zum Flieger nach Quebec. Die Familie gehört zu den tausend Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die aus Deutschland kommend in diesem Jahr eine neue Heimat in Kanada finden sollen.

Zwei Koffer pro Nase – das ist mehr, als die kroatische Familie vor sechs Jahren bei der Flucht aus ihrer Heimatstadt Zenica mitnahm. In der zentralbosnischen Stadt 60 Kilometer von Sarajevo wohnen heute bosnische Muslime. „Wir können nicht zurück“, sagen die Calics. Warum – und wie sie die ersten Kriegsjahre in Zenica bis zur Flucht überlebt haben – das ist für die Familie bis heute unaussprechlich. „Wir haben alles verloren“, sagen die Söhne Mario und Zoran. Mehr nicht. Sie reden wie Alte, sind aber erst 23 und 25 Jahre alt.

Mit 19 war Zoran, der Ältere, vor dem Kriegsdienst zum Onkel nach München geflohen. „Ich wollte nicht schießen“, sagt er. Das war 1991. Es folgte ein Jahr, in dem er von den Kämpfen zu Hause nur im Radio oder von Flüchtlingen hörte – aber nicht von den eigenen Leuten. Post und Telefon funktionierten nicht. Von der Familie drang lange kein Wort aus dem eingekesselten Zenica, das von wechselnden Fronten belagert wurde. Unterdessen war von Lagern, von Massenvergewaltigungen, von „ethnischen Säuberungen“in Bosnien die Rede. Davon waren auch Kroaten betroffen. Ebenso vom Hunger.

Was die Calics davon erlebt haben, und warum sie nicht zurück können, haben sie in der kanadischen Botschaft in Bonn persönlich vorgetragen. Drei Monate ist das her. „Es war schrecklich“, sagt Zoran. „Wissen Sie, wie das ist“, fragt er, „nicht zu wissen ob Mutter, Vater, Bruder und die kleine Baby-Schwester noch leben oder verhungert sind?“1992 sei die Familie endlich nach Bremen gekommen. „Ich glaube, wie das ist, versteht niemand, der es nicht erlebt hat“, sagt der 25jährige, der sich selbst so gut Deutsch beigebracht hat, daß er den Bruder nur manchmal bittet, „Mario hilf mir doch.“Mario wird in Deutschland bleiben. Vor zwei Wochen hat er hier geheiratet.

Nur eine freut sich auf Kanada. Die sechsjährige Sanja quirlt durchs Wohnzimmer. In Quebec soll für sie endlich die Schule beginnen. Da will sie schreiben lernen, ja, vielleicht auch Briefe, denn ihre Freundin Eva bleibt ja in Bremen. Aber sonst wird Kanada toll. Da ist das zierliche Mädchen so sicher, daß die Mutter lacht. Seit Nesthäkchen Sanja geboren wurde, hat sie die Familie vor dem Verlust der Hoffnung bewahrt, daß es irgendwann besser wird. Der Mutter war gar nicht zum Lachen gewesen, als sie die Schwangerschaft bemerkte. Zu der Zeit habe sie schon nicht mehr in der Bank gearbeitet, in der sie 25 Jahre beschäftigt war. Während sie in Andeutungen von ihrem früheren Leben spricht, schläft Vater Calic nebenan – wie jeden Mittag. „Gewohnheiten helfen“, nicken die Söhne.

„Arbeit würde auch helfen“, sagt Mario. Dann grinst er Zoran an. „Vor allem dir. Mehr als mit Mädchen ausgehen.“Der Ältere schweigt. Er hätte in Bremen gerne gearbeitet – wie anfangs in München, wo er kellnern durfte. Aber jetzt ist der gelernte Elektrotechniker völlig aus der Übung – und vor allem müde, wie er sagt. „Ich habe keine Kraft mehr. Zuviel Streß.“Das sei die ganze jahrelange Belastung. Nicht einmal auf Kanada kann sich Zoran freuen. „Besser als zurückgehen ist es“, sagt er. Aber in Bremen bleiben wäre besser. Nicht daß er den Deutschen böse wäre, weil die Familie nicht bleiben darf, wie es im Ausländeramt hieß. „Sie haben uns geholfen. Wir bedanken uns.“Aber gerecht findet Zoran das Leben nicht, das ihn schon wieder zum Neuanfang zwingt. ede

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