: Zeugen der Geschichte
Das Centrum Judaicum zeigt Alltagsgegenstände, hinter denen sich Unterdrückung, Diskriminierung und Ausplünderung der Berliner Juden verbirgt
Von Klaus Hillenbrand
In einer großen gläsernen Vitrine, einem Gewächshaus nicht unähnlich, liegt zwischen vielen anderen Dingen ein hölzerner Kleiderbügel. Wozu um alles in der Welt stellt man so etwas aus? Wenn es wenigstens ein Kleid wäre, das da hinge!
Und auch daneben der im Inneren mit Stoff bespannte Koffer ist nun wirklich nichts Besonderes, sondern ein Alltagsgegenstand aus dem 20. Jahrhundert, als man noch ohne Rollen unterwegs war. Und dann, immerhin, liegt da noch das Schild einer Arztpraxis hinter dem Glas.
Die Banalität der ausgestellten Objekte ist nur scheinbar. In Wahrheit verstecken sich hinter Koffer, Kleiderbügel und dem Schild dramatische Geschichten.
Die Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum hat etwas sehr Simples getan. Die Museumsmenschen haben in ihrem Magazin nachgesehen, was sich da so alles verbirgt. Sie haben 36 Objekte für ihre Ausstellung herausgenommen. Dann wurde es weniger einfach.
Die Kuratorinnen Alina Gromova und Monika Keenan haben nämlich in Berlin lebende Jüdinnen und Juden gebeten, ihnen dabei behilflich zu sein, die ausgewählten Objekte mit Leben zu erfüllen. Diese Menschen kamen aus 14 Staaten. Einige leben seit ihrer Geburt in der Stadt, andere erst seit Kurzem, so wie der DJ aus Kasachstan, der gerade einmal seit 14 Tagen in Berlin weilte.
Sie alle haben die Dinge in die Hand genommen. Sie haben auf einem Schofar, einem jüdischen Instrument, geblasen. Den Kleiderbügel näher betrachtet, den Koffer geöffnet. Und dann damit begonnen, davon zu erzählen, was diese Objekte in ihnen auslösen, welche Gefühle sie mit ihnen verbinden.
Sofya Dolinskayas Familie floh 1941 vor der heranrückenden Wehrmacht aus dem Westen der Sowjetunion nach Usbekistan. Dort wurde Sofya geboren. 1994 erreichte sie Deutschland. Sie fand unter den Objekten eine Türklinke. „Als ich diese Türklinke in die Hand nahm, bekam ich eine Gänsehaut“, berichtet sie. „Denn ich erinnerte mich sehr lebhaft an alles, auch weil es niemanden mehr gibt. Es gibt einfach niemanden mehr aus dieser Generation.“
Die Türklinke aber entstammt der 1942 von den Nazis geschlossenen Jüdischen Knabenschule Große Hamburger Straße 27 in Berlin Mitte.
Das Praxisschild ist eines der wenigen Objekte, das seine Rolle als blechernes Zeugnis von Unterdrückung und Diskriminierung auf den ersten Blick offenlegt. „Dr. med. Israel Ernst Jacobsohn“ steht da, dazu „Sprechst. 9–10, 5–7“. Oben links prangt ein gelber „Judenstern“ auf dem Metall und unten steht geschrieben: „Zur ärztlichen Behandlung ausschließlich von Juden berechtigt!“ Am 30. September 1938 war jüdischen Ärzten die Approbation in Deutschland entzogen worden. Sie durften fortan nur noch als „Krankenbehandler“ ausschließlich bei Juden tätig werden.
Es blieb nicht bei der Berührung der Objekte aus dem Fundus. Viele der Jüdinnen und Juden fühlten sich beim Anblick der Dinge an eigene Stücke aus ihren Familien erinnert. Sie brachten diese mit. Ihre Gegenstände wurden ebenfalls Teil dieser bemerkenswerten Ausstellung, bei der eines deutlich wird: Die Bedeutung eines Gegenstands hat nichts, absolut gar nichts damit zu tun, welchen Wert er repräsentiert, ob es nun 10 Cent oder 10.000 Euro sind. Die Bedeutung wächst allein aus der Vergangenheit. Wobei anzumerken ist, dass viele jüdische Familien über keinerlei ältere Erinnerungsstücke verfügen, weil ihre Vorfahren nur das nackte Leben retten konnten.
Der Kleiderbügel im Glashaus trägt nicht einmal eine Aufschrift, so gewöhnlich ist er. Doch an diesem Bügel hing einmal die Uniform eines deutsch-jüdischen Offiziers, der im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Amerikaner gegen das Hitler-Regime kämpfte. Als er noch in Berlin lebte, hieß er Kurt Jacobowitz. Als Kurt Jasen landete er am 5. Juni 1944 in der Normandie und half bei der Befreiung Europas. Nach seinem Tod haben die Erben die Uniform nebst Kleiderbügel dem Centrum Judaicum übereignet.
Die Jüdinnen und Juden, die sich an der Ausstellung beteiligten, brachten ihre eigenen Kleiderbügel mit. Auch an diesen kleinen Stückchen Holz hängt deutsch-jüdische Geschichte. Auf einem davon steht „Heitinger & Co. Herren & Knaben Garderobe Berlin, am Oranienplatz“. Wer das Geschäft heute betreten möchte, sucht vergeblich. Die Besitzer Isidor Heitinger und Meyer Levin wurden schon zu Beginn der NS-Herrschaft 1933 dazu gezwungen, ihr Unternehmen zu verkaufen.
Alison Singer, der die Schau im Centrum Judaicum mit vorbereiten durfte, sagt: „Wenn ich diesen Kleiderbügel sehe, stelle ich mir viele Kleidergeschäfte vor, sie sind überall in der Oranienstraße. Die Leute arbeiten dort Tag für Tag. Ich stelle mir vor, wie die Leute gekleidet waren, wie sie miteinander geredet haben. Man kann sich mit etwas ganz Einfachem wie einem Kleiderbügel Vergangenheit vorstellen.“
Alison Singer, Kuratorin
Das gilt selbstverständlich auch für den im Inneren mit Stoff bespannten Koffer, der im Glashaus der Ausstellung steht. So banal das Objekt, so besonders war sein Besitzer. Der hieß Hans Rosenthal und war in der Nachkriegszeit bis zu seinem Tod 1987 ein überaus beliebter deutscher Quizmaster und Unterhaltungskünstler. Den Koffer, so erzählte es später seine Witwe Traudl Rosenthal, habe er immer auf seinen Reisen mitgenommen. Der Anhänger mit Namen und Adresse hängt noch dran.
Doch nur die wenigsten Menschen wussten damals, dass sich Rosenthal als Jude während der Shoah in einer Berliner Kleingartenkolonie verbergen musste, unterstützt von einigen mutigen Frauen. Sein Bruder Gert wurde von den Nazis ermordet. Auch dieser Koffer ging später an das Centrum Judaicum. Bei anderen Objekten aus dem Fundus mangelt es dagegen an der Dokumentation. „Die Wege der Objekte in die Sammlung sind oft unklar“, sagt Direktorin Anja Siegemund.
Entstanden ist mit all diesen Dingen eine ganz besondere Schau, die ihre eigene Bedeutung erst bei einer näheren Beschäftigung eröffnet. Man muss schon in die Geschichte der Objekte eintauchen und in den Erläuterungstexten zu den Objekten blättern und die Tafeln lesen, um zu begreifen, dass es nicht immer bedeutungsschwerer, mit Hakenkreuzen versehener Dokumente bedarf, um die Katastrophe darzustellen, die ab 1933 über die Berliner Juden – und nicht nur über diese – herein brach.
Sondern dass ein paar Kleiderbügel ausreichen.
„Gefühlsdinge“. Bis zum 12. April 2026. Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Oranienburger Straße 28–30. Täglich außer am Samstag geöffnet.
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