Zentralafrikanische Republik: Eine humanitäre Tragödie auf Raten
Ein Zehntel der eigenen Bevölkerung als Vertriebene im eigenen Land: Die zentralafrikanische Republik gerät außer Kontrolle. Rebellengruppen machen sich breit, Wahlen ersatzlos gestrichen.
BANGUI taz | Auf dem Tisch hat Muriel Cornelis eine Karte ausgebreitet. Sie zeigt viele bunte Punkte: Hier sollten eigentlich Hilfswerke arbeiten. Tatsächlich aber haben sich längst alle Helfer aus dem Norden und Nordosten der Zentralafrikanischen Republik zurückgezogen.
Zu Recht, meint die Direktorin der Humanitären Abteilung der EU im Land. "Die Lage dort ist unvorhersehbar und explosiv." Seit Wochen kämpfen Armee und Rebellen, Tausende von Menschen sind aus ihren Dörfern geflohen. "Die lokale Bevölkerung wird von allen Konfliktparteien vertrieben, von Rebellen, Regierungssoldaten oder schlicht Banditen", sagt Annette Rehrl, UNHCR-Sprecherin im Süden Tschads. Nach ihren Zahlen leben 70.000 zentralafrikanische Flüchtlinge in Lagern im Tschad, dazu kommen 330.000 Vertriebene im eigenen Land – ein Zehntel der Bevölkerung.
Die Krise in der Zentralafrikanischen Republik ist eine humanitäre Tragödie auf Raten. Vor anderthalb Jahren, als fünf Rebellengruppen und die Regierung des Präsidenten François Bozizé sich auf einen "Nationalen Dialog" einigten, schwiegen die Waffen für ein paar Monate.
Die UN-Mission "Minurcat" im Osten Tschads und dem Nordosten der Zentralafrikanischen Republik wird zum Jahresende aufgelöst. Dies beschloss am Dienstag einstimmig der UN-Sicherheitsrat. Die 3.300 Blauhelmsoldaten waren 2009 in Ablösung einer EU-Truppe aus Angst vor einer Ausweitung des Darfurkrieges in Sudans Nachbarländer entsandt worden.
Doch bald wurde wieder gekämpft. Im Norden des Landes um Sido ist die "Demokratische Front des Zentralafrikanischen Volkes" (FDPC) aktiv, im Nordosten um Ndele die "Konvention der Patrioten für Gerechtigkeit und Frieden" (CPJP), deren Führer Charles Massi, ein ehemaliger Präsidentschaftskandidat, zu Beginn des Jahres in Militärgewahrsam starb.
"Die jüngste Gewaltwelle im Norden geht auf das Konto einer Rebellengruppe, die sich zersplittert hat und in der es keinerlei Disziplin mehr gibt", beschreibt Edward Dalby von der International Crisis Group die Lage. "Die Rebellen haben aus Frust über den verschleppten Friedensprozess damit begonnen, willkürlich Menschen zu entführen und zu foltern." Die wenigen Regierungssoldaten sind ihrerseits unterbezahlt und schlecht ausgerüstet.
So unsicher ist die Zentralafrikanische Republik, dass die für den 16. Mai geplante Präsidentschaftswahl kurz vorher vom Parlament auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Bozizé bleibt trotz Ablaufs seiner Amtszeit an der Macht. Wer in der Hauptstadt Bangui mit Regierungsvertretern spricht, die darauf bedacht sind, nicht zitiert zu werden, gewinnt zugleich das Gefühl, dass die Regierung das Land jenseits der Hauptstadt aufgegeben hat.
"Im Hinterland herrschen Rebellengruppen und Straßenräuber", sagt Peter Weinstabel, der in Bangui die deutsche Botschaft vertritt. Deshalb sei die Zentralafrikanische Republik, trotz Gold, Diamanten und anderer wertvoller Mineralien, eines der ärmsten Länder der Welt. "Die Instabilität hält jeden Investor ab." Eine kleine Elite lebe von Ressourcen, die vor Jahrzehnten erwirtschaftet worden seien.
Wo der Staat das Land im Stich lässt, machen sich Invasoren wie die ugandische "Widerstandsarmee des Herrn" (LRA) breit. Aus Uganda über den Kongo und Südsudan in die Zentralafrikanische Republik gekommen, nehmen die Übergriffe der LRA im Südosten des Landes zu. Mindestens zehn LRA-Überfälle hat das UNHCR seit Anfang Mai alleine in der Provinz Haut-Mbomou registriert. Mindestens 36 Bewohner wurden hingerichtet, mehr als 10.000 sind auf der Flucht.
"Die LRA ist verzweifelt, ihre Kämpfer brauchen alles", beobachtet Muriel Cornelis. "Nahrung, Kleidung, Unterkunft, deshalb schlagen sie unbarmherzig zu." Augenzeugen berichten von niedergebrannten Dörfern, vergewaltigten Kindern und Opfern, denen die Lippen oder Ohren abgeschnitten wurden.
Manchmal harren Flüchtlinge wochenlang im Wald aus, so Cornelis. "Das hier ist keine Krise im normalen Sinn", gibt die Belgierin zu. "Die Vertreibungen sind schlimm, aber noch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau." Dennoch seien Zugang zu Trinkwasser und Nahrung so katastrophal wie in Ländern, wo ein heftiger Krieg tobe oder sich eine Naturkatastrophe ereignet habe. "Das liegt daran, dass es seit Jahrzehnten keine Regierung, keine Ordnung mehr gibt."
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