Zehn Jahre nach Kioto-Protokoll: Fieberanfall am Genfer See
Die UN-Staaten einigen sich auf die Verhandlungsgrundlage für ein neues Klimaprotokoll. Der Text ist ein wüster Wunschzettel geworden.
So war das nicht gemeint: Als am Beginn der letzten Woche der Umweltverband WWF von den UN-Staaten „unusual business“ forderte, wollte er echte Fortschritte bei den Klimaverhandlungen sehen. Die Umweltschützer hatten auch konkrete Forderungen an die wichtigsten Akteure (zum Beispiel China: weg von der Kohle; Brasilien: Wald retten und Erneuerbare ausbauen; EU: minus 30 Prozent CO2-Ausstoß schon 2020; USA: weniger Kohle und Fracking mit weniger Methan).
Die Delegierten taten am Ufer des Genfer Sees tatsächlich etwas Ungewöhnliches – aber anders als vom WWF erhofft: Sie nahmen den 38-seitigen Entwurf für das große Klimaabkommen, das Ende 2015 in Paris verabschiedet werden soll – und bliesen ihn auf 86 Seiten auf. Der „Fieberanfall“, wie es ein UN-Experte nannte, machte aus dem „Elementepapier“ von der Klimakonferenz von Lima im Dezember ein unübersichtliches Konvolut voller Optionen und Widersprüche. Eigentlich sollte das Papier für Paris auf einen Umfang von etwa 20 Seiten schrumpfen. In Genf passierte genau das Gegenteil.
Und so ist aus einer übersichtlichen Verhandlungsgrundlage für das „Paris-Protokoll“ ein wüster Wunschzettel geworden, der praktisch alle Ideen zum Klimaschutz und gleich auch ihre Gegenthesen enthält: So sprechen einige Optionen von der „völligen Dekarbonisierung bis 2050“, andere wollen damit lieber 50 Jahre länger warten.
Manche Absätze mahnen einfach „tiefe Einschnitte“ bei den Emissionen von Treibhausgasen an, andere sagen, den „größten Teil davon“ müssten die Industrieländer tragen. Die Entwicklungsländer schrieben die vorrangige Verpflichtung der Industriestaaten in den Text, die USA konterten mit dem neuen Vorschlag, die Staaten in „Annex X“ und „Annex Y“ zu unterteilen, China will „nationalen Umstände“ berücksichtigt sehen.
Eine Verhandlungsgrundlage
Und während manche Länder fordern, die Anpassung an den Klimawandel müsse genauso wichtig sein wie die Reduktion von Emissionen, wollen andere das nur in einem „ausbalancierten Verhältnis“ sehen. Auch um den Schadenersatz für Klimaschäden wird heftig gestritten. Und an juristischen Formulierungen hängen Konzepte mit gewichtigen Folgen. Ob nun die „Integrität von Mutter Erde“, die Menschenrechte oder Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben werden, wird daher in den nächsten Monaten hart umkämpft sein. Gelegenheit dazu bieten informelle und offizielle Treffen, die G-7- und G-20-Gipfel oder der „Petersberger Klimadialog“ in Berlin.
Der Text für Paris wurde am Freitagnachmittag formell abgesegnet und gilt als offizielles Arbeitspapier. Die Experten selbst sind mit dem aufgeblähten Text gar nicht mal unzufrieden: Das sei „kein Konsenstext, aber eine Verhandlungsgrundlage, die von allen Parteien akzeptiert wird“, sagt der deutsche Delegationsleiter Karsten Sach. „Wir sind in dem Prozess da, wo wir sein sollten.“ Auch für Sönke Kreft von der Umweltorganisation Germanwatch ist das Papier „ein Startpunkt, von dem aus wir sehen, wie hoch der Berg noch ist“.
Ziemlich hoch, wenn man den Text studiert. Weder ist klar, in welcher rechtlichen Form das Paris-Protokoll die Staaten binden soll, noch, wer genau sich wozu verpflichtet. Die Frage der Finanzen ist weiterhin ungeklärt, es gibt nur eine vage Zusage von 100 Milliarden Dollar ab 2020. Auch wer die Klimaziele der Länder nach welchen Kriterien und in welchem Zeitraum überprüfen soll, muss noch geklärt werden. Eine der härtesten Nüsse aber wird die Frage der „Differenzierung“ zwischen den Staaten – welcher Staat muss wie viel tun, wie bildet man hier Gruppen? Auch dazu stehen völlig verschiedene Konzepte in dem Genfer Papier.
Bisher gilt die „Kioto-Welt“: Eine scharfe Trennung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern anno 1997: Die einen haben das Problem verursacht und müssen es beseitigen; die anderen leiden unter den Folgen und brauchen Hilfe. „Die Kioto-Welt ist untergegangen“, sagen heute die Industriestaaten. Das Abkommen, das am 16. Februar seinen zehnten Geburtstag feiert, wirkt heute eher als abschreckendes Beispiel. Es hat seine Ziele erreicht und gilt doch als gescheitert.
Die Emissionen steigen
Das Kioto-Protokoll hat zwar erfolgreich globale Normen für den Klimaschutz durchgesetzt und einen internationalen Markt für Kohlenstoff etabliert, die Kioto-Staaten haben ihr Ziel von minus 5 Prozent Kohlendioxidausstoß bis 2012 mit minus 9 Prozent sogar übertroffen. Allerdings hat dieser Erfolg dem Klima nicht viel genützt. Weil Länder wie China, Indien, Brasilien oder Indonesien nicht gebunden sind – und die USA sich zurückzogen –, stiegen die weltweiten Emissionen seit 1990 um mehr als 45 Prozent.
Das Paris-Protokoll soll jetzt die Fehler von Kioto und vom gescheiterten UN-Klimagipfel in Kopenhagen 2009 vermeiden: Es soll alle Staaten verpflichten, muss aber auch auf Washingtons und Pekings Allergie gegen völkerrechtliche Verträge Rücksicht nehmen. Anders als in Kopenhagen geplant soll in Paris niemand zum Klimaschutz gezwungen werden.
Nun sammelt die UNO von ihren Mitgliedstaaten deren Klimaziele ein. Die reichen allerdings bislang bei Weitem nicht aus, um die globale Erwärmung bis 2100 auf 2 Grad zu begrenzen, sondern bringen die Welt eher auf einen Kurs zu 3 bis 4 Grad, hat Christiana Figueres, die Chefin des UN-Klimasekretariats, gerade wieder klargestellt. Deshalb senkte letzte Woche auch der neue EU-Klimakommissar Miguel Arias Cañete die Erwartungen für Paris: „2 Grad sind das Ziel, aber wenn wir einen Prozess haben, kann man nicht von einem Misserfolg sprechen, wenn die Angebote der Länder die 2 Grad bisher nicht erreichen.“
Vor allem einen Fehler von 2009 wollen die Klimadiplomaten vermeiden: mit einem Wust an verschiedenen Vorschlägen in die Schlussverhandlungen gehen. Da ist das Genfer Paket mit 86 Seiten voller Widersprüche gar nicht so schlecht, findet ein Verhandler: „Vor Kopenhagen hatten wir mehr als 200 Seiten.“