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Zehn Jahre „Schwarzbuch Lidl“Die Ohnmacht der Beschäftigten

Kommentar von Martin Kempe

Fast jeder weiß um die vielfach schlechten Arbeitsbedingungen – von Lidl bis Amazon. Doch ohne Druck der Öffentlichkeit läuft gar nichts.

Die Arbeitsbedingungen in den Läden kümmern die Käufer eher wenig. Bild: dpa

H eute kämpfen die Beschäftigten von Amazon und Zalando für elementare Rechte am Arbeitsplatz, für das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, tarifvertraglich gesicherte Entlohnung, menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Die Streiks bei Amazon werden begleitet von einer breiten medialen Berichterstattung über die repressive Unternehmenskultur in dem Online-Multi.

Dies gibt den Aktionen der Beschäftigten außerbetrieblichen Rückenwind und verbessert die Bedingungen für den Aufbau innerbetrieblicher Gegenmacht.

Die doppelgleisige gewerkschaftliche Strategie aus offensiver medialer Skandalisierung und innerbetrieblicher Organisierung hat sich in den letzten Jahren vor allem in den Schattenbereichen der Wirtschaft durchgesetzt. Wo es einen hohen Anteil prekärer, ungesicherter Beschäftigung gibt, wo die Löhne unterirdisch sind und die innerbetriebliche Machtstellung des Managements sich unangefochten austoben kann – gerade in diesen Bereichen ist die Ohnmacht der Beschäftigten eklatant und der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig bis nicht existent. Ohne den Druck der Öffentlichkeit läuft dort in aller Regel gar nichts.

Vor zehn Jahren, am 10. Dezember 2004, dem „Tag der Menschenrechte“, hat die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eine breit angelegte Kampagne in einem Unternehmen gestartet, das – ähnlich wie Amazon – allgemein bekannt ist und dessen Geschäftsmodell durch den Slogan „Billig auf Kosten der Beschäftigten“ zutreffend beschrieben wurde.

Auf einer gut besuchten Pressekonferenz stellte Verdi das „Schwarzbuch Lidl“ vor: Ein medialer Paukenschlag. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete an prominenter Stelle über die skandalösen Arbeitsbedingungen, über systematische Schikanen, aufgezwungene unbezahlte Mehrarbeit sowie Druck und Drohungen gegen Beschäftigte, die ihr Recht auf die Wahl eines Betriebsrats wahrnehmen wollten.

Lohndrücker und Billigkonkurrenz

Rund zwei Jahre später legte der Journalist Andreas Hamann, der zusammen mit anderen das Schwarzbuch recherchiert und verfasst hatte, mit dem „Schwarzbuch Lidl Europa“ nach: Sogar in den Billiglohnländern Süd- und Osteuropas profilierte sich der „Schwarz-Konzern“ (nach dem Lidl- und Kaufland-Eigentümer Dieter Schwarz) als Lohndrücker und Billigkonkurrenz für einheimische Einzelhändler.

Martin Kempe

ist freier Journalist. Er war taz-Redakteur der ersten Stunde und Chefredakteur bei ver.di. Bücher: „Ermutigungen für den aufrechten Gang im Betrieb“ und „10 Jahre ver.di“ (Westfälisches Dampfboot).

Seit den Industriereportagen von Günter Wallraff Anfang der siebziger Jahre hatte es kein erfolgreicheres Buch aus dem Arbeitsleben „ganz unten“ gegeben. Nach rund zwei Jahrzehnten neoliberaler Dominanz in den Leitmedien der Bundesrepublik, in denen der wirtschaftliche Erfolg und nicht seine Kehrseiten im Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit stand, wurde offengelegt, was heute – nach einem halben Dutzend Krisenjahren – offensichtlich ist: Auch in Deutschland gibt es Unternehmen, in denen Menschen- und Arbeitsrechte systematisch verletzt werden. Auch hier regiert in vielen Bereichen der Wirtschaft ungezügelte soziale Macht und produziert ihr Gegenteil: millionenfache soziale Ohnmacht.

Die Lidl-Kampagne wurde im öffentlichen Bewusstsein eine der großen Erfolgsstories von Verdi. Außergewerkschaftliche Gruppen wie attac schlossen sich der Kampagne an und organisierten deutschlandweit Filialbesuche, übernahmen Filialpartnerschaften und ermutigten die Beschäftigten, ihre Rechte wahrzunehmen und Betriebsräte zu wählen.

Dennoch war der organisationspolitische Erfolg von Verdi sehr begrenzt. Es ist nicht gelungen, eine nennenswerte Anzahl von Betriebsräten zu installieren, die als gewerkschaftliche Organisationskerne hätten fungieren können. Es gab zwar im Verlauf der Kampagne einen deutlichen Mitgliederzuwachs unter den Lidl-Beschäftigten, aber eine effektive gewerkschaftliche Gegenmacht innerhalb des Unternehmens konnte nicht aufgebaut werden.

Die damalige Organisatorin der Lidl-Kampagne in der ver.di-Zentrale, Agnes Schreieder, kommentierte in der Rückschau gegenüber dem gewerkschaftlichen Magazin Mitbestimmung: „Ohne den Druck auf den Konzern, der nur durch die Medien und die soziale Bewegung möglich war, hätten wir es nie geschafft, eine spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei Lidl zu erreichen.“

Ver.di verschläft den Erfolg

Der für den Einzelhandel zuständige Verdi-Sekretär Ulrich Dalibor hebt dagegen hervor, viele Beschäftigte hätten sich durch die skandalisierende Kampagne in ihrer beruflichen Identität angegriffen gefühlt. Hinzu kam die berechtigte Angst der Beschäftigten angesichts der repressiven Unternehmenskultur bei Lidl. Es ist ihnen nicht entgangen, dass der Konzern in Calw eine ganze Filiale dichtgemacht hat, als die Belegschaft sich anschickte, einen Betriebsrat zu wählen.

Aber es gab auch Probleme bei Verdi, eine organisationspolitische Ungeduld, Enttäuschung über das Ausbleiben schneller Erfolge trotz der überwältigenden Medienresonanz. Als der Konzern dann im Jahr 2010 unter dem Druck spürbarer Umsatzverluste ankündigte, er wolle seinen Beschäftigten in Zukunft einen Stundenlohn von mindestens zehn Euro (inzwischen 11 Euro) zahlen und die innerbetrieblichen Umgangsformen nachhaltig verbessern, hat ver.di dies nicht als späten Erfolg der Kampagne öffentlich kommentiert.

Der Grund: Es gab in der Berliner Verdi-Zentrale keine zentrale Steuerung des Lidl-Projekts mehr. Die Finanzierung der Lidl-Projektgruppe war Ende 2007 eingestellt worden.

So bleibt vom Erfolg der Lidl-Kampagne nach 10 Jahren vor allem eines: Sie hat im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wesentlich dazu beigetragen, den Raum für kritische Medienberichterstattung aus der Arbeitswelt zu erweitern. Es ist gelungen, den anwachsenden Sektor prekärer, entrechteter Arbeit – nicht nur bei Lidl, nicht nur in Deutschland – zu einem öffentlich wahrgenommenen Thema zu machen.

Damit verbunden ist ein schwer messbarer, durch die Wirtschaftskrise ab 2008 verstärkter Legitimitätsgewinn für gewerkschaftliche Aktivität – zum Beispiel bei Amazon & Co.

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9 Kommentare

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  • erinnere mich an meinen Kollegen, Mitglied der Juso, seine Frau arbeitete als Friseuse, der Gute war ewig am schimpfen, die Entlohnung seiner Frau wäre Ausbeutung und die Chefin, naja, dann ging die Chefin in Rente, dei Kollegenfrau übernahm das Geschäft, sagte ich zu ihm: also, jetzt wird deine Frau doch ihre Angestellten und ehemaligen Kolleginnen gerecht entlohnen, da war das Thema vom Tisch, man hört keinen Kommentar mehr!

    • @Georg Schmidt:

      Naja, das Problem ist: Die soziale Stellung ist noch kein Indiz für die moralische Einstellung. Ich glaube nicht, dass sich das Gehalt umgekehrt proportional zur Moral verhält. Aber natürlich gilt: Wer mehr Macht hat, kann natürlich in größerem Umfang moralisch verwerflich handeln. Als armer und machtloser Mensch ist man insofern leicht im Recht. Aber im moralischen Sinne schlechte Menschen gibt es "oben" wie "unten.

  • Anstatt auf die Unternehmen zu schimpfen, die sich der von der Regierung bewilligten Methoden bedienen, sollte die Zwangsversklavung der Regierung an den Pranger gestellt werden.

     

    Falls sich ein Arbeitnehmer weigert, einen von der "Agentur für Arbeit" vermittelten Job zu den unfairen Bedingungen an zu nehmen, muss er mit empfindlichen Sanktionen rechnen.

     

    Wer ist hier also der Böse?

    • @Gerda Alldag:

      Genau das meine ich mit der wirksamen Propaganda: Die meisten Leute nehmen die Unternehmen in Schutz und gehen auf die Politik los. Aber sind den etwa privatwirtschaftliche Manager per so von der Moral befreit?

  • Warum kaufen sie bei Lidl ein ? Warum bei amazon wenn sie doch wissen wie schlecht die angestellten behandelt werden ???

    Weil es billig ist ? Klar , einen anderen Grund hat das nicht !

    Jeder der dort einkauft , beutet auch die angestellten aus , und solange das so ist , wird sich an der "Ausbeutung" auch nix ändern !

    SIE allein sind verantwortlich für die hier beschriebenen Zustände und nur sie ( der Kunde ) kann das ändern .

    Aber ich fürchte ihnen ist das Hemd auch näher als der Rock ....

    • @tomtomtoy:

      So ein Schwachsinn, dieser Glaube an die Konsumentendemokratie. Nicht alle demokratischen Prozesse sind ökonomische Prozesse und nicht alle ökonomischen Prozesse sind demokratische. Es gleicht einer Gehirnwäsche: Der Konsument bestimmt alles und ist daher an allem Schuld und trägt für alles die Verantwortung. Was ist mit Werbung? Was ist mit der Führung in den Firmen? Was ist mit den Angestellten, die dort arbeiten? Was ist mit den Beraterfirmen? Was ist mit den Finanzinstitutionen? Was ist mit den Politikern und ihren Wählern? Ich vereinfache und überspitze mal: Los, trink Alkolhol, das macht attraktiv, erfolgreich und Du kannst alle Frauen bekommen. Je mehr Du trinkst, desto besser. Du musst einfach nur gaaaanz viel trinken, dann wird alles ganz toll. Fußnote: Trink mit Verstand!

      • @Peter Ulber:

        Was ist mit der Politik, die diese Schweinereien zulässt ???? Die großen Firmen tun ja nix illegales , wenn sie Arb eitskräfte einstellen mit Probezeit für ein halbes Jahr . Rechtzeitig bevor die Probezeit abläuft , wird man gekündigt mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung , denn wenn man übernommen wird , hat man als Arbeitnehmer mehr Rechte . Und das wollen sie ja nicht - die großen Firmen .......... So ist es leicht, immer genügend "Arbeiter" zu haben, die sich Hoffnung auf eine feste Arbeit machen . Zu erkennen auch in der Kartei der Bundesagentur für Arbeit - die suchen ständig Verkäufer/innen - sind nie weg von dieser Liste . Frohes Neues

        • @E. Foisner:

          Die Politik tut auch nichts Illegales. Warum haben Firmen einen Freibrief für jede "Schweinerei". Überspitzt: Nur weil mir ein fragwürdiges Gesetz gestattet, allen Frauen zwischen 40 und 50 schmerzhaft an den Haaren zu ziehen, muss ich das noch lange nicht tun.

    • @tomtomtoy:

      selten soviel Unsinn auf einmal, fragen Sie mal die Leute in den Pflegeheimen warum sie dei Dienste von schlechtbezahlten Menschen in Anspruch nehmen, oder fragen Sie den Techniker, der Ihr Auto wartet und repariert, der Chef fährt einen 100.000€ Schlitten und der Monteur einen Gebrauchten für 5.000€uro, fragen Sie mal Ihren Friseur, der Ihnen die Haare schneidet oder die Verkäuferin, die Ihnen ein Wurstbrötchen macht-im Grunde sind Sie ( nach Ihrer Beschreibung) selber ein Ausbeuter !