: Zauberwort Marktwirtschaft in der DDR
Ein Gespenst geht um in Osteuropa - das Gespenst der Marktwirtschaft. Hatten vor kurzem noch sich alle Mächte dieses alten Europas zu einer heiligen Hetzjagd gegen das Gespenst verbündet, so verdrehen die meisten jetzt verzückt die Augen, hören sie nur das magische Zauberwort und blasen energisch die jubilierende Trompete zum Aufbruch ins glückverheißende Paradies.
Marktwirtschaft, nun endlich auch in der DDR: Das Volk hat sie sich bitter erkämpft. So entblößt möchte sie sich allerdings nicht zeigen, die seligmachende Urmutter aller Ökonomie - mit Mäntelchen wird sie umhangen, mit Tüchlein und Schärpe geschmückt. Denn wirklich attraktiv und exzellent wirkt sie erst, wenn sie mit den Modefarben der Saison verziert wird - dem ökologischen Grün, dem sozialen Rot oder dem liberalen Gelb, vielleicht etwas blau abgetönt. Doch sie ist ehrlich, so richtig loslegen kann sie erst, so richtig effizient und flexibel ist sie nur, wenn sie alles lästige Beiwerk abgeworfen hat, nackt ist sie wirklich frei
-denn: Alles muß sich rechnen. Vorerst präsentiert sie sich bei uns dort, wo eigentlich ihre Heimat ist: auf den Markt -Plätzen. Hier tummeln sich die Handelstreibenden, und gottlob, es sind keine Polen oder gar Vietnamesen, es sind Deutsche. Da reicht man schon mal gern die Mark rüber, die harte, versteht sich, für all die schönen Sachen, die für uns hergeschleppt werden, in extra gemieteten Lieferwagen zumeist: die Cola- und Bierbüchsen, die prächtigen Früchte oder auch die wohlgeformten Palmenwedel. Zum Glück sind es die Brüder und Schwestern, die dort stehen; Freundschaft, ja Freundschaft, die hört beim Gelde auf, wie man wohl weiß, aber unter Verwandten gelten andere Gesetze.
Und sind alle Geschäfte abgewickelt, lassen die händelnden Blutsbrüder bereitwillig für uns alle die leeren Kisten und Pappkartons zurück, daß sie sich türmen mögen auf den Plätzen und in den Nischen zur freien Nutzung für jedermann.
Einen anderen Markt beschert uns gegenwärtig die wirklich in jeder Hinsicht überlegene Wirtschaftsordnung: den Arbeits -Markt. Es ist, kurz ausgedrückt, die Bezeichnung dafür, daß einige wenige wenig Arbeit vergeben, und andere, es sind halt ein bisserl mehr, sie suchen. Wenn alle Bedingungen drumherum stimmen, heben sich, wie in jeder gut funktionierenden Marktwirtschaft, in einer Art schwebendem Auf und Ab, Angebot und Nachfrage auf, so daß es zum Ausgleich aller Interessengruppen - Arbeitgeber und Arbeitnehmer - kommt, eine Art dynamisches Gleichgewicht. Wenn nicht, auch das kommt vor, entsteht ein Überhang an freien Stellen - was nicht so gut für die Unternehmer ist, da sie dann weniger produzieren. Gelegentlich, was ebenfalls nicht verschwiegen werden darf, entsteht auch ein Mehr an freien Kräften, ein Überschuß an Arbeitnehmern, der über den Preis gewiß immer seinen Ausgleich findet.
Einige Schwierigkeiten bereitet uns noch der Zeitungs -Markt. Hier wird wohl momentan die quellende Fülle, das üppige Pornorama am deutlichsten offenkundig und für jedermann wirklich greifbar; und die Qual der Wahl ist wohl eine der schlimmsten. Was sich da jeden Morgen, glänzend bebildert, als Revue postiert, Hör zu ruft und Greif zu meint, ist doch, das sollte wohl zugestanden werden, für die hiesige, bislang ausgehungerte Zeitungsleserschar etwas zu viel. Geht es uns hier in der Tat wie den bescheidenen Kiosken - wir können die viele gute Kost einfach nicht verdauen. Eifrig wird Stoß auf Stoß geschichtet, die Delikatessen liegen meist obenauf und werden schnell verzehrt, während die alte magere Speise und auch die bewährte Hausmannskost nicht mehr die ersehnten Esser findet. Doch auch dies wird sich finden, denn nur das Beste setzt sich durch.
Marktwirtschaft in der DDR, nach all den anderen Ländern Osteuropas, wo sie mehr oder weniger zögernd oder auch zügig ihren Einzug hielt, nun auch bei uns. Lange wurde ihr dieser verwehrt, es schien, als hätte diese Wirtschaftsform nie eine Chance in einem Land gehabt, wo Planung regierte, wo alles rein und hold war und jeder zu Mittag eifrig nickte. Nun bricht alles herein. Dieses Land, dieses Restlein Deutschland, so scheint es, wird wohl am stärksten von der geifernden Lustseuche befallen. Lange genug seien sie betrogen worden, die armen Menschen - von vierzig Jahren sprechen manche -, das böse Schicksal hätte sie nicht verschont, und: man lebe nur einmal. Und so taumeln sie in die fetten Arme ihrer Brüder und Schwestern, versinken in den überquellenden Brüsten, um den Inzest zu vollziehen; doch im Gegensatz zu jenen ungeschützt durch die Kondome des sozialen Netzes. Nur kurz, scheint es, wird die Lust dauern, schon erhebt sich die donnernde Stimme des feilschenden Oberschamanen zur magischen Formel „1:2“, und das Volk schüttelt sich im Fieber des cool turkey. Das haben wir nicht gewollt, flehen entsetzt die einen, in banger Erwartung vor den eisigen Winden, die anderen ballen grimmig die Fäuste in den tiefen Taschen ihrer soeben preisgünstig erworbenen Umhänge, lassen die Accessoires scheppern und ihre Wut ventilieren.
Und werden nicht müde, nach Verbündeten zu suchen, nach Partnern, nach Gesellschaftern. Jeder gründet und begründet eifrig, um ja den Anschluß nicht zu verpassen; es ist die Zeit der Tausendsassas, die allerorten mit deutscher Gründerlichkeit und fernwestlichem Management das Feld ihrer heimlichen Träume bestellen. Und noch eine Zauberformel ist zu vernehmen; zuerst nur geflüstert, geht sie nun reihum, als rettende Geburtshelferin, für all die Wunder, die da kommen mögen. Ein Hauch angelsächsischer Exotik ist da wohl im Spiel, gepaart mit dem offenkundig-überlegenen Wissen, der souveränen Erfahrung, die uns nun nach West schielen läßt, uns, die wir vordem den Hals nach Ost verdrehten. Nach all dem slawischen Tohuwabohu, an das wir uns nie so recht gewöhnen wollten, nun endlich das Zauberwort: joint venture. Ein Blick ins Wörterbuch schafft Klarheit: „joint“ heißt Verbindung, Vereinigung; und „venture“ - Abenteuer, Wagnis, Risiko...
Volker Petzold
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