Zahlenmagie beim Renteneintrittsalter: Trick 67
Immer mehr Menschen arbeiten laut einer Statistik der Regierung zwischen 55 und 65 Jahren. Dank eines Rechentricks. Die Realität sieht trostloser aus. Ab 63 Jahren sinkt die Erwerbsquote rapide.
BERLIN taz | Am Mittwoch wird die Regierung erneut beteuern: Die Rente mit 67 kann kommen. "Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist vertretbar und bleibt notwendig", lautet das Fazit des Berichts "Aufbruch in die altersgerechte Arbeitswelt", den Ursula von der Leyen (CDU) vorstellen wird.
Das Konvolut überprüft zum ersten Mal, ob sich die Beschäftigungssituation älterer ArbeitnehmerInnen nachhaltig verbessert hat. Nur dann könne die Regelaltersgrenze ab 2012 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben werden, heißt es im Gesetz zur Rente mit 67, das Union und SPD 2007 beschlossen haben. Auf Druck der Sozialdemokraten wurde damals auch vereinbart, künftig alle vier Jahre die Situation zu überprüfen.
Von der Leyen ist bereits jetzt hochzufrieden. Vor allem die Beschäftigungslage für Ältere habe sich in den vergangenen Jahren "deutlich verbessert". Laut Bericht hat sich die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen in sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten zwischen 2000 und 2009 auf rund 23 Prozent verdoppelt. Auch in der Gruppe der 55- bis 65-Jährigen ist die Quote zwischen 2005 und 2009 von 29,3 auf 37,3 Prozent gestiegen.
Also grünes Licht für die Rente mit 67, und das heißt auch: für deutliche Rentenabschläge, wenn jemand früher aussteigt? "Die Regierung will nicht einsehen, dass es auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben die Voraussetzung für die Rente mit 67 nicht gibt", sagt der Ökonom und Rentenforscher Ernst Kistler. Auch SPD, Grüne, Linke und Gewerkschaften fordern mittlerweile unisono, den Einstieg in die Rente mit 67 zu verschieben. Für Kistler ist es schlichtweg "Irrsinn", wie Politik und Arbeitgeber mit den Zahlen operieren.
Die Kritik, die man an die Regierung richten kann, wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, ist umfangreich. Da werden Menschen in der passiven Phase der Altersteilzeit als "Beschäftigte" gezählt, obwohl sie gar nicht mehr im Betrieb arbeiten. Auch die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen zusammenzufassen, verschleiere die Realität am Arbeitsmarkt, sagt Kistler. Denn ab 63 Jahren nimmt die Erwerbsquote, zumal die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, rapide ab. Gerade einmal jeder Zehnte hat mit 64 Jahren, also kurz vor der derzeit noch aktuellen Rentengrenze von 65 Jahren, eine abgesicherte Beschäftigung. Und die kann dann immer noch Teilzeit- oder Leiharbeit sein.
Doch eines ärgert Kistler besonders: "Man ignoriert völlig, dass es einen demografischen Effekt gibt." Weil die geburtenstarken Jahrgänge in die Gruppe der 55- bis 60-Jährigen hineinwüchsen, steige deren Beschäftigungsquote automatisch an. "Das hat aber nichts damit zu tun, dass sich in den Betrieben oder am Arbeitsmarkt etwas geändert hat." Die Zahlen zeigen, wie schwer es für Ältere am Arbeitsmarkt immer noch ist. Mehr als ein Drittel aller Betriebe beschäftigte im Jahr 2008 keine Menschen über 50 Jahre. Und die Anzahl der Betriebe, die in Maßnahmen investieren, um ihren älteren Beschäftigten das Arbeitsleben zu erleichtern, sank zwischen 2002 und 2007 sogar von 20 auf 17 Prozent.
Drei von 800 schaffen es, bis 65 zu arbeiten
Im Waggonbauwerk Görlitz hält schon heute fast niemand bis 65 durch. "Unter hohen Temperaturen schweißen, hämmern und mit dem 10 Kilogramm schweren Vorschlaghammer die Waggonwände richten, das wird mit 60 Jahren nicht leichter", erzählt Volker Schaarschmidt. Atemwegs-, Skelett- und Muskelerkrankungen seien bei den Kollegen an der Tagesordnung. Der 58-Jährige selbst hat Glück, er ist als Betriebsratsvorsitzender freigestellt. Er könnte sich aber nicht vorstellen, mit über 60 noch in der Produktion zu arbeiten. Gerade mal zwei oder drei Kollegen von 800 hätten in den letzten zehn Jahren bis 65 gearbeitet. "Der Rest geht deutlich früher."
Das aber wird in Zukunft nicht mehr so einfach sein, nachdem die Politik Ende 2009 die geförderte Altersteilzeit beendet und damit die Möglichkeit genommen hat, ohne deutliche Rentenkürzungen den Job früher aufzugeben. "Die Leute kriegen eh schon keine üppige Rente, die können Kürzungen von acht bis 12 Prozent nicht verkraften", sagt Schaarschmidt.
"Wir müssen uns Regeln überlegen, wer früher ohne Rentenverluste aus dem Job kann, wenn er schwer körperlich oder psychisch gearbeitet hat. Die Regierung ignoriert diese Frage bisher völlig", sagt Kistler. Untersuchungen zeigen: Dachdecker, Bauarbeiter, ErzieherInnen, LehrerInnen, Fleischer, Beschäftigte im Gastgewerbe oder in den Metallberufen: Sie alle steigen lange vor 65 aus, weil die Belastungen so hoch sind. Auch im bundesweiten Durchschnitt wird die magische Zahl von 65 Jahren nicht erreicht. Mit durchschnittlich 63,2 Jahren gingen die Menschen 2008 in Rente. Mit 61,7 Jahren treten sie aber bereits aus dem aktiven Erwerbsleben aus. Bis zur Rente drehen dann viele Schleifen: Sie sind krankgeschrieben oder arbeitslos.
So erzeugt die Rente mit 67 neue Ungerechtigkeiten. Leute mit sehr stressigen Jobs und wenig Bezahlung müssen durchhalten, weil ihnen sonst im Alter hohe Rentenabschläge drohen. Ähnlich ist es, wenn sie krank werden und lange gar nicht oder mit reduzierter Stundenanzahl arbeiten. In Folge sinkt das Gehalt und damit auch die spätere Rentenhöhe. Zudem wird die Arbeit häufig umverteilt: Auf KollegInnen, die den Job von dauerkranken älteren MitarbeiterInnen miterledigen müssen.
Das kennt auch Nina Gelsbruck (Name geändert). Die fast 60-Jährige ist Horterzieherin in einem sogenannten sozialen Brennpunkt in Berlin. Etliche ihrer KollegInnen über 60 haben gesundheitliche Probleme: "Eine hat einen Bypass, einer musste zur psychosomatischen Kur, eine hat Herz-Kreislauf-Probleme." Die Arbeit muss trotzdem gemacht werden. "Die Stellen von den Langzeitkranken werden nicht nachbesetzt." KollegInnen müssen die Mehrbelastung auffangen, mit verdünnter Besetzung, die zum Dauerzustand wird. "Das ist nicht gut für die Kinder."
Gelsbruck liebt ihre Arbeit. "Aber es ist völlig klar, dass ich nicht so lange durchhalten werde. Bei meinem Job heißt es, jeden Tag allein auf eine Gruppe von 12 bis 17 Kindern acht Stunden lang aufzupassen, immer präsent, verantwortlich zu sein. Das schafft man einfach nicht mehr." Mit 63 Jahren will sie aufhören. Auch wenn ihre Rente dann um fast neun Prozent niedriger ausfallen wird. Fair sei das nicht, sagt sie, die mehr als 35 Jahre lang gearbeitet und zwei Töchter alleine groß gezogen hat. "Die Rente mit 67 ist ein Kürzungsprogramm, nichts anderes."
Die Kürzungen schlugen bereits in den letzten Jahren deutlich zu Buche. So sank die Zugangsrente laut Deutscher Rentenversicherung zwischen 2000 und 2008 von 1.021 auf 942 Euro. Rentenkürzungen betreffen bereits heute jeden zweiten Ruheständler. Im Schnitt büßen die Ruheständler 114 Euro ein. Das liegt unter anderem an der Ausweitung des Niedriglohnsektors und den gesetzlich beschlossenen Dämpfungsfaktoren in der Rentenversicherung.
Der Grundkonflikt besteht zwischen Arm und Reich
Trotzdem halten Regierung und Arbeitgeber an ihrer Forderung nach der Rente mit 67 fest. Wenn die Leute älter würden, müsse sich die Lebensarbeitszeit erhöhen, fordern die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). "Wir müssen durch längere Arbeitszeiten die Belastung der Rentenkasse und damit der Beitragszahler vermindern", sagt Anne Zimmermann, Leiterin des Referats Soziale Sicherung bei der DIHK.
Für Kistler greifen diese Argumente viel zu kurz. "Die Ursachen für die knappen Sozialkassen liegen vor allem in der niedrigen Lohnentwicklung der letzten Jahre und im wachsenden Anteil der Niedriglohnbeschäftigung, nicht im Mangel an den Köpfen."
Tatsächlich zeigen die Zahlen, dass von 1970 bis 1980 ein viel geringerer Anteil der Bevölkerung als heute gearbeitet und damit die Nichterwerbstätigen versorgt hat. Und so kommen acht große Sozialverbände und die Gewerkschaften in ihrem Vierten Monitoring-Bericht des Netzwerks für eine gerechte Rente nach Berechnungen zu dem Schluss, dass der steigende Altenanteil durchaus ohne Rente mit 67 finanzierbar wäre.
"Allerdings müsste dazu die Lohnquote steigen und die Kapitaleinkünfte müssten stärker zur Finanzierung der Alterssicherung bzw. des Sozialstaats insgesamt herangezogen werden", lautet ihr Fazit. "Der gesellschaftliche Grundkonflikt besteht nicht zwischen Jung und Alt, sondern innerhalb der Generationen: zwischen Arm und Reich und zwischen Kapital und Arbeit. Das wird in Deutschland systematisch ausgeblendet", sagt Kistler.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr