ZUHAUSE DOCH FREMD: „Ich will ein deutscher Jude werden“
In der Sowjetunion seien die Juden „gar nichts“, erzählt der Emigrant Arkady Litvan. In ihrer Berufswahl und bei der Arbeit würden sie schikaniert, das Jüdischsein ihnen unmöglich gemacht. Bis Anfang letzten Jahres Vorsteher der Jüdischen Gemeinde von Odessa, lebt er jetzt mit seiner Familie in Berlin. Seine Geschichte, aufgezeichnet ■ VON ANITA KUGLER
Ich bin ein Jude aus der Sowjetunion, heiße Arkady Litvan und bin 44 Jahre alt. Meine beiden Söhne, Rodion, 19 Jahre, und Dan, acht Jahre, sind Juden, dafür habe ich gesorgt. Meine Frau, Alla, 42 Jahre, ist Jüdin und eine gute dazu, und alle kommen wir aus Odessa und sind seit dem 19. Februar vorigen Jahres in Berlin. Ich danke jeden Tag Gott, daß es uns gut geht. Jetzt haben wir seit vier Wochen sogar eine Wohnung in Wilmersdorf, so ein Glück. Vier Zimmer in einer schönen Lage und sehr billig. Am meisten freue ich mich darüber, daß ich am Sabbat zu Fuß in die Synagoge gehen kann. In einer so riesigen Stadt wie in Berlin, in der es nur noch fünf Synagogen gibt, ist das doch wie ein Fest.
Sie können sich gar nicht ausdenken, wie schlimm die Wohnung heruntergewohnt war, wir haben geschrubbt und gemalert, riesige Löcher in den Wänden heilgemacht. Hier haben vorher auch Juden aus Rußland gewohnt, aber ganz viele, nicht nur eine Familie. Ich weiß nicht, wo die jetzt sind. Ich habe die Wohnung über einen Makler bekommen, auch ein Jude aus Rußland. Aber der ist schon ganz lange in Berlin. Ich habe ihm erzählt, daß wir schon seit über zehn Monaten in einem Übersiedlerlager in Reinickendorf mit vier Familien in einer kleinen Wohnung wohnen und daß ich auch mit einer Hausmeisterwohnung zufrieden wäre. Da hat er sich gerührt gefühlt, hat unter den Tisch gegriffen und eine Adresse hervorgeholt. Sie müssen die Wohnung so nehmen, wie sie ist, hat er gesagt, und die Kosten für die Renovierung selbst übernehmen. Wir haben erst geschluckt, aber meine Frau hat gesagt, Arkady überleg nicht, unterschreib den Vertrag. Das hat sie gut gesagt, denn jetzt ist die Wohnung doch sehr schön und sie kostet nur 604 Mark Miete. Die bezahlt das Sozialamt. Möbel haben wir noch nicht, nur eine Sofaecke. Die haben wir gebraucht gekauft, das war auch sehr billig.
Ich weiß, in Berlin leben über 3.000 Juden, die auch im letzten Jahr aus der Sowjetunion ausgereist sind, und fast keiner von ihnen hat eine Wohnung. In Berlin gibt es viele Juden, deutsche Juden, die haben große Häuser. Aber sie vermieten nicht so gerne an andere Juden. Wissen Sie, warum: Weil man sie nicht hinausschmeißen kann. Offiziell sagen sie was anderes. Es würde bei den Deutschen einen schlechten Eindruck machen, wenn man die eigenen Leute protektionieren würde, das würde dem Antisemitismus Vorschub leisten, sagen sie. Aber das stimmt nicht, sie wollen sich mit uns nur nicht belasten. Antisemitismus gibt es auch ohne Juden, nicht nur in Deutschland, auch in Amerika. In Berlin haben wir aber nur gute Erlebnisse gehabt, allerdings kennen wir noch nicht viele Deutsche. Wir kennen fast nur Russen oder Juden und meistens russische Juden.
Ich wollte schon seit 15 Jahren aus der Sowjetunion ausreisen. Den ersten Antrag habe ich für Israel 1976 gestellt. Der wurde von den Behörden abgelehnt, weil ich ein Geheimnisträger war. Ich war nämlich in den sechziger Jahren ein „Militär“, am Ende sogar ein Unteroffizier der Roten Armee. Nachdem mein Ausreiseantrag abgelehnt wurde, war ich als „Refusnik“ bekannt. Das ist ein schwerer Zustand, weil man dann als Dissident benachteiligt wird. Man bekommt keine Arbeit, keine Wohnung, nichts. Daß ich keine Arbeit hatte, war zu ertragen. Ich wollte sowieso für mein Volk leben. Deswegen habe ich in einer Schiwa in Moskau gelernt, den Talmud, das jüdische Recht, aber auch das Schächten. 1980 wurde ich zum Gemeindevorsteher in Odessa gewählt. Bis zur Perestroika ging es uns nicht sehr gut. Beschneidungen haben wir heimlich im Krankenhaus machen lassen, und auch die Bar Mizwa (Ritus für die Aufnahme in die Gemeinde, d.R.) von unserem großen Sohn Rodion haben wir lieber nicht an die große Glocke gehängt. Nach der Perestroika war alles besser, ich war sogar einmal als jüdischer Funktionär in Amerika. In Odessa gibt es viele Juden. Am Sabbat kamen zwar immer höchstens 150 in die Synagoge, aber für Pessach haben wir 50.000 Mazze gebacken. Ich wollte aber trotzdem nicht in der Sowjetunion bleiben, und die Gemeindemitglieder haben das immer gewußt und akzeptiert.
Uns hat nicht der bereits vorhandene Antisemitismus aus dem Land getrieben. Sicher, den haben wir gespürt. Mein Sohn Rodion hat mit der ausdrücklichen Begründung, daß er Jude ist, keine guten Mathematiknoten beim Abitur bekommen, und auch meine Frau Alla wurde bei einer Prüfung in der Ingenieurfachschule als Jüdin benachteiligt. Als Jude muß man in der Sowjetunion immer sehr viel besser als die anderen sein, damit man eine Chance für einen Studienplatz oder Beruf bekommt. Also lernt man Tag und Nacht, und später wird man doch benachteiligt, weil es dann wieder heißt, die Juden haben alle die guten Berufe – Ärzte, Journalisten, Dozenten – gepachtet. Diese Zwickmühle gab es schon immer. Deswegen gibt es so viele Akademiker unter den Ausreisenden.
Das Land wird in einem Bürgerkrieg versinken, das ist schrecklich, es ist ein so schönes Land. Wir haben Odessa sehr geliebt, aber als Jude kann man nicht ruhig bleiben, wenn alles außer Kontrolle gerät. Leider, leider; das Land hat keine Zukunft, es zerfällt doch vor den Augen der ganzen Welt. Und wenn es zu einem Bürgerkrieg kommt, werden die Juden wieder die ersten Opfer sein. Pogrome haben in Rußlands schlechten Zeiten eine lange Tradition. Und nur deswegen, weil irgendjemand in diesen Zeiten die antisemitische Organisation Pamjat für die Blutarbeit brauchen wird, wird Pamjat nicht verboten. Aber der Hauptgrund für unseren Wunsch zu gehen war, daß in dieser gefährlichen Zeit Rodion zum Militär eingezogen werden sollte. Da hätte er vielleicht die Letten, Litauer oder Ukrainier bekämpfen müssen, die für die Unabhängigkeit auf die Straße gehen. Das geht doch nicht. Und außerdem ist heute die Armee in einem grauenvollen Zustand. Die jungen Männer gehen gesund in die Kasernen hinein und kommen als Krüppel an Leib und Seele wieder heraus.
Im Februar 1990 durften wir mit einem Touristenvisum Odessa verlassen. Wir hatten eine Einladung von meinem Bruder in Australien. Aber wir wollten nie nach Australien, sondern nach West-Berlin. Hier wohnt auch ein Bruder von mir, und meine Eltern, die schon vor zehn Jahren Rußland verlassen haben, sind hier auf dem jüdischen Friedhof begraben. Natürlich, wir hätten auch einen Ausreiseantrag für Israel stellen können, aber ich glaube nicht, daß Israel der einzige Platz für die Juden aus der ganzen Welt ist. Ich bin ein orthodoxer Jude, aus religösen Gründen will ich auch gar nicht nach Israel gehen, denn noch ist der Messias nicht gekommen. Ich sage nicht, daß man nicht nach Israel gehen darf, ich sage nur, man braucht nicht. Der letzte Krieg hat obendrein gezeigt, daß die Diaspora immer noch eine wichtige Bedeutung hat. In diesem Punkt befinde ich mich im Widerspruch zu den Zionisten.
Ich will als Jude in Deutschland leben, am liebsten ein deutscher Jude werden. Mein Sohn Rodion hat ganz andere Ansichten als ich. Er will kein deutscher Jude werden, sondern ein russischer Jude bleiben. Aber er weiß nicht, was das heißt. Die Tragik unseres Volkes in der Sowjetunion ist doch, daß die allermeisten gar nichts sind. Sie sind weder Juden, weil sie die jüdischen Traditionen nicht mehr kennen, noch sind sie Russen, weil sie als Juden ausgegrenzt werden. Sie tragen das Judentum nur noch genetisch in sich, sind aber ein entwurzeltes Volk. Das ist ein schrecklicher Zustand. Damit das Judentum dieser Menschen wieder erweckt werden kann, bevor es ganz stirbt, ist es richtig, aus der Sowjetunion auszuwandern. Die Juden in der Diaspora müßten eigentlich immer in zwei Kulturen zu Hause sein. In der jüdischen Kultur und in der des Landes, in dem sie leben. Deswegen ist es falsch, sich wie Rodian hinzustellen und zu sagen, ich will kein deutscher Jude werden, sie sind kalt und gefühllos. Er hat von der deutschen jüdischen Kultur keine Ahnung.
Aber das haben die wenigsten neuen Emigranten. Sie kennen die Deutschen und die deutschen Juden nur vom Fernseher und bewegen sich freiwillig im russischen Sprachghetto. Das ist so falsch. Ich jedenfalls lerne den ganzen Tag deutsch. Alleine und mit Hilfe von Büchern. Ich lese auch viele deutsche Zeitungen und versuche mich mit den Leuten zu unterhalten. Große Hoffnungen habe ich für meinen kleinen Sohn Dan. Er wird nicht ungetrennt von den Deutschen sein. Er geht in eine deutsche Schule, hat auch deutsche Freunde und spricht fast akzentfrei.
Eine Arbeit habe ich bisher nicht gefunden. Als ich im letzten Frühjahr kam, wußte ich, daß es wenig Hoffnung darauf gibt. Jetzt habe ich große Hoffnungen, weil es doch in Berlin Tausende von sowjetischen Juden gibt. Da braucht man vielleicht doch russisch sprechende Fachleute. Vor einigen Wochen wurde gesetzlich beschlossen, daß alle Juden aus der Sowjetunion, die vor dem 15. Februar nach Deutschland gekommen sind, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Sie haben einen Anspruch auf Sprachkurse und Berufsumschulungen. Leider gilt diese Regelung aber nur für die Juden, die nach dem 1. Juni 1990 angekommen sind. Wir waren zu früh hier.
Ich bin überzeugt davon, daß ich, wenn ich fließend deutsch spreche, irgendwo gebraucht werde. Das treibt mich an, läßt mich aber oft auch nicht schlafen. Jetzt finde ich mal hier, mal dort eine kleine Gelegenheitsarbeit, fast immer bei russischen Juden, die schon lange in Deutschland leben. Meine Frau Alla hat mehr Glück gehabt. Sie war zwar früher Ingenieurin und ist jetzt Schneiderin bei einem russischen Juden, der eine Schuhmeisterei betreibt. Aber immerhin verdient sie etwas Geld. Wußten Sie, daß es in Berlin unheimlich viele russische Schuhmacher gibt und die meisten Spielsalons von Russen betrieben werden?
Die Emigration ist eine sehr schwere Sache und man braucht eine lange Zeit, um herauszufinden: woher komme ich, wer bin ich und wohin gehe ich. Nichts ist mehr selbstverständlich. Trotzdem aber weiß ich, daß es ein richtiger Entschluß war, nach Deutschland zu kommen. Es ist für die Juden gut, ihre Wurzeln wieder finden zu können, und es ist für Deutschland gut, wenn es hier wieder ein Judentum gibt. Es ist eine Chance für alle.
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