ZEHN JAHRE ANERKENNUNG VON SLOWENIEN UND KROATIEN: Europas erstes Scheitern in Jugoslawien
Deutschland und Österreich hätten mit der diplomatischen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vor zehn Jahren den Zerfallsprozess Jugoslawiens beschleunigt und damit Schuld auf sich geladen – bis heute hält sich diese Mär nicht nur bei Politikern, sondern auch bei vielen Wissenschaftlern. In den Medien wird sie oftmals unkritisch wiederholt, mehr noch, sogar bei vielen Mitarbeitern internationaler Organisationen herrscht die Meinung vor, die beiden Außenminister Genscher und Mock hätten mit ihrer Politik den Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit verursacht.
Dass der Krieg im Juni 1991 begann und die Anerkennung der beiden Staaten erst am 15. Januar 1992 erfolgte, zeigt, wie wacklig der Grund ist, auf dem dieses Denkgebäude steht. Die einseitige Schuldzuweisung an die Adresse Deutschlands und Österreichs diente ideologischen Zwecken, sie entsprach dem Interesse der serbischen Führung in Belgrad und wurde vor allem von jenen Kräften in den westlichen Staaten propagiert, die den Anspruch des Milošević-Regimes, die Herrschaft Serbiens über die meisten anderen Nationen des Vielvölkerstaates Jugoslawien zu wahren, unterstützen wollten. Vor allem in Großbritannien und Frankreich verbreitete sich der Vorwurf an Genscher und Mock schnell.
Die Wiederkehr nationalistischer Ideen fand damals nicht nur auf dem Balkan statt. In Frankreich und Großbritannien war die deutsche Einigung mit Misstrauen betrachtet worden; die Kriege in Jugoslawien schienen die aus dem Zweiten Weltkrieg bekannten Fronten wiederherzustellen. Milošević’ Propaganda, Deutschland und Österreich unterstützten aus historischen Gründen den Weltkriegsverbündeten Kroatien, fand in den konservativen Kreisen beider Westalliierter Gehör. Eine Kategorie wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ja selbst die der Demokratisierung wollten diese Kreise dem „nationalen Interesse“ unterordnen.
Die britischen Politiker, vor allem Außenminister Douglas Hurd, gingen in die Falle Milošević’, beschreibt der Zeitgeschichtler Brendan Simms. Sie unterstützten die Politik Belgrads in Kroatien und später in Bosnien verdeckt und teilweise sogar offen – bis zum Massaker von Srebrenica 1995. Der kürzlich veröffentlichte Untersuchungsbericht der Französischen Nationalversammlung liest sich stellenweise wie eine Anklage gegen die Politik Frankreichs. Schonungslos, und das ehrt die französischen Parlamentarier, wird aufgedeckt, wie UN-Kommandeur Bernard Janvier alles unternahm, um eine militärische Intervention zugunsten der Menschen von Srebrenica zu verhindern.
1993 begann allerdings bereits die Koordinierung der europäischen und internationalen Politik auf dem Balkan. Wenn heute tatsächlich von einer „internationalen Gemeinschaft“ dort gesprochen werden kann, dann ist dies vor allem dem Umstand geschuldet, dass die „Interessen“ und Ideologien der europäischen Nationalstaaten zugunsten einer gemeinsamen Position in Bezug auf Demokratisierung, Wirtschaftsreform und Menschenrechte in den Hintergrund gedrängt worden sind. Seit Srebrenica sind direkte Einflussnahmen von europäischen Nationalstaaten auf das Geschehen auf dem Balkan, kämen sie nun aus Berlin, Paris oder London, nicht mehr denkbar.
Die Debatte um die diplomatische Anerkennung Sloweniens und Kroatiens kann fruchtbar werden, wenn die Schuld aller europäischen Seiten betrachtet wird. Heute kann man sich einig darin sein, dass die Wiederkehr des nationalistischen Denkens in den europäischen Hauptstädten Anfang der Neunzigerjahre den Kriegstreibern auf dem Balkan in die Hände gespielt hat. Und auch darin, dass man damals hätte sehr viel machtvoller auftreten müssen, um den Krieg zu verhindern. Wenn schon der alte Staat nicht mehr zusammenzuhalten war, dann hätte man wenigstens ein zivilisiertes Auseinandergehen wie das der Tschechen und Slowaken anstreben müssen. Viele Menschen hätten bei einer richtigen Politik heute noch am Leben sein können.
Immerhin sind Konsequenzen gezogen worden. Der Krieg der Nato im Kosovo, die Abwahl des Tudjman-Regimes in Kroatien und der Sturz Milošević’ haben die politischen Koordinaten auf dem Balkan nachhaltig verändert. Jetzt besteht eine Chance für die „Europäisierung“ des Balkans in einem anderen Sinne, als dies noch 1991/92 der Fall war.
ERICH RATHFELDER
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